In der Ukraine herrscht Krieg. Der Einfluss Russlands auf das Land wirkt gewaltig. Deutschland ist seit Beginn einer der Staaten, die alles daran setzen, diese Kraft durch Sanktionen einzudämmen. Doch wie sehen die Ukrainer die Deutschen und ihre Politik? Dieser Frage bin ich in Kiew nachgegangen.[divide]
Ankunft in der Ukraine
Die russisch-ukrainische Grenze war wohl mit Abstand der Punkt meiner Osteuropareise, an dem ich den größten Respekt zeigte. Ich war das erste Mal in beiden Ländern. So hatte ich keine Ahnung, was mich als deutscher Tourist dort erwartete. Würden sie mich ohne große Fragen passieren lassen? Wie lange würde der Übergang an der momentan am strengsten überwachten Grenze Europas für mich dauern?
Wo sind sie geboren? – In Berlin? Wohin fahren Sie? – Nach Kiew? Die Passkontrolle kostete mich lediglich 90 Minuten und weder die Russen noch die Ukrainer misstrauten mir und meinen Absichten. Der neutrale Status eines deutschen Reisenden lässt auch in diesen politisch sensiblen Gebieten keine Probleme entstehen, dachte ich. Mit einem Lächeln im Gesicht verließ ich die Grenze und machte mich auf den Weg zu einem kleinen Familienhof in einem Dorf in der Nähe von Kiew, um dort zwei Wochen zu arbeiten und die Kultur kennen zu lernen.
“Ich möchte nach Deutschland und überall sonst hin”
Meine Gastgeberin betreibt seit zwei Jahren ihren eigenen Hof. Ihr Name ist Evgeniya. Sie kommt ursprünglich aus Russland. Seit 1988 lebt sie mit ihrem kleinen Sohn und ihrer kranken Mutter in der Ukraine. Sie spricht beide Landessprachen fließend und weiß das Leben auf dem Land zu schätzen. “Hier hat man seine Ruhe vor den kriegsähnlichen Zuständen”, sagt sie. “In der Stadt hätte ich vielleicht einige Schwierigkeiten als Russin.” Und doch ist sie enttäuscht von der Politik, von den Verteuerungen, der Arbeitslosigkeit, sowie der geringen Reisefreiheit.
“Ich bin studierte Übersetzerin. Ich liebe Sprachen. Ich möchte nach Deutschland, aber auch in viele andere Länder reisen. Die Welt ist für alle da.” Doch die Visumspflicht macht ihr das nicht möglich. Oftmals ist es sehr teuer und seit dem Konflikt mit Russland zu kompliziert, es zu bekommen.
Deutschland als Vorzeigeland
Für Evgeniya ist Deutschland ein Land, das Freiheit garantiert, ein ausgezeichnetes Sozialsystem hat und dessen Regierung ohne große Korruption funktioniert. Sie lobt die deutsche Wirtschaft. Insbesondere die weitaus geringere Arbeitslosigkeit und die mit Abstand größeren Gehälter. Evgeniya kann sich sogar vorstellen, dort zu leben. “Mit dem Mindestlohn in Deutschland wäre ein größerer Verdienst garantiert. Hier in der Ukraine verdiene ich als Nachhilfelehrerin vier Euro die Stunde. Das wird sich auch nicht ändern. Im Gegenteil: Durch den Krieg ist hier Vieles teurer geworden.”
Die Begeisterung für Deutschland bezieht sich bei Evgeniya speziell auf das Geldverdienen. Sonst hat sie keinerlei Verbindungen zu dem Land. Dennoch überlegt sie, eines Tages Deutsch zu lernen. Das dürfte ihr nicht allzu schwer fallen, gerade lernt sie Niederländisch.
Propaganda führt zu einem negativen Bild
Doch vor einiger Zeit hat sich das Image in den Köpfen vieler Ukrainer gewandelt. Evgeniya erzählt, dass der Krieg zu keinem Ende führt. “Wir warten vergeblich auf eine Besserung der Situation. Warten auf die Hilfe von Europa, von Deutschland, aber nichts passiert.” Diese Hoffnungslosigkeit führe ihrer Meinung nach dazu, dass die Berichterstattung über Deutschland in den Medien alles andere als positiv ist. Informationen, die dem Motto gleichen: Weil sich nichts ändert, muss davon ausgegangen werden, dass Deutschland pro-russisch eingestellt ist. Evgeniyua glaubt nicht dran, denn für sie bedeute sie eine Absurdität des Konfliktes zwischen der EU und Russland. “Doch Menschen mit einem niedrigen Bildungsgrad lassen sich davon beeinflussen. Sie folgen all dem, was in der Presse steht”, meint Evgeniya.
Sie gibt zumindest zu, dass viele andere Menschen daran glauben, dass Deutschland gegen Russland ist. Dennoch seien diese von dem Land enttäuscht. Für die Ukrainer gilt ihr Land als Spielball zwischen Ost und West. Deutschland kümmere sich nicht genug um die Ukraine, sondern wolle zusammen mit den USA nur seine eigenen Interessen gegen Russland durchsetzen. Sie seien der Überzeugung, dass die Ukraine Distanz zu Russland schafft, um sich besser verteidigen zu können. Es hätte im Prinzip jedes postsowjetische Nicht-EU-Land treffen können, das die Krise zwischen Ost und West neu entflammt hätte.
Aber warum ist das so? Evgeniya ist der Meinung, dass die Presse lediglich über Merkel berichte. Die erste Assoziation mit Deutschland sei die Bundeskanzlerin. Man kenne kaum etwas über Deutschland und die Menschen selbst, aber die politischen Aktivitäten der deutschen Regierung sind täglich präsent. Und da sich die Situation nicht ändere, scheinen sie für die Ukrainer nicht zu funktionieren.
Der Bildungsgrad ist entscheidend
Nach wie vor ist für Evgeniya der Bildungsgrad essenziell, um eine reflektierte Meinung über Deutschland zu gewinnen. In Kiew lerne ich die Familie des kleinen Paul kennen. Wir treffen uns zufällig in einem Museum und kommen ins Gespräch. Da Paul Deutsch lernt und bald in die Schweiz geht, fragen sie mich, ob ich ihm während meines Aufenthaltes in Kiew einige Nachhilfestunden gebe. Die Familie ist für ukrainische Verhältnisse sehr wohlhabend. Sie ist begeistert von Deutschland. Pauls Mutter Katerina lebte sogar für einige Zeit in Freiburg. Doch Stereotypen haben sie gegenüber den Deutschen nicht. Für sie ist jeder Mensch unterschiedlich, sodass es heutzutage manchmal schwierig erscheine, Ukrainer von Deutschen oder von Schweizern zu unterscheiden. “Die junge Generation ist so international orientiert, dass mehr und mehr festgesetzte Stereotypen verschwinden.”
Dennoch treffe ich ebenfalls auf Menschen, die trotz ihres hohen Bildungsgrades ein klischeehaftes Bild von den Deutschen haben. Ich lerne die beiden Couchsurfer Oleg und Anna kennen. Beide sind junge Ukrainer, die mir die Stadt zeigen. Anna nimmt Deutschkurse an der Universität und Oleg arbeitet für einen ukrainischen Fußballverband, der eine Partnerschaft mit einem deutschen Verein pflegt.
“Für mich sind die Deutschen die strukturiertesten und diszipliniertesten Menschen”, sagt mir Oleg. Anna sieht in Deutschland vor allem eine reiche und historische Kultur, in der Menschen leben, die gewissenhaft arbeiten und für die Ordnung eine hohe Priorität hat. Beide waren bereits in Deutschland, allerdings nicht länger als eine Woche.
Die klassisch deutschen Stereotypen, die Oleg und Anna haben, werden sich auch in anderen Nationalitäten wiederfinden. Dennoch wird deutlich, dass das eigentlich positive Deutschlandbild in der Ukraine durch die deutsche Intervention in den Konflikt von negativen Tendenzen überschattet wird. Für Evgeniya ist eines sicher: Um ein möglichst exaktes Bild zu bekommen, ist es wichtig, selbst dort hin zu fahren und für längere Zeit zu bleiben. “Nur so kann man die Verhaltensweisen und Perspektiven tatsächlich intensiv kennen lernen. Aber Reisen wird für uns Ukrainer immer schwierig sein, daher werden die Stereotypen nicht verschwinden.”
(Text und Fotos: Tom Pascheka)