Derzeit überschlagen sich die Nachrichten aus der arabischen Welt stündlich. Die Massenproteste in Nordafrika haben bereits vor Monaten begonnen und seit Mitte Januar ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. An der Universität Marburg diskutieren drei Wissenschaftler über die aktuellen Geschehnisse.
[divide]
„Mir ist der Begriff Revolution zu heilig”, lauten die ersten Worte des Algeriers Rachid Quaissa. Der Leiter des Lehrstuhls Politik des Nahen und Mittleren Ostens an der Philipps-Universität Marburg spricht lieber von einer „ReFolution”, da er gerade in Ägypten keinesfalls weitreichende Umformungen des gesamten politischen Systems erwartet – in erster Linie seien lediglich Reformen zu erwarten, erklärt Quaissa.
Der Algerier stellt sich zudem die Frage, ob es sich bei den aktuellen Ereignissen möglicherweise gar nicht um ein speziell arabisches Phänomen handeln könnte, sondern um eine Bewegung der Dritten Welt? Wenn dies der Fall wäre, „dann haben wir einen großen Salat”, verkündet er. Das Interessante an der gesamten Entwicklung sei, dass es sich um neue handelnde Akteure handele. Akteure, die vor allem über das Online-Netzwerk facebook agieren und damit „unberechenbar, flexibler und klüger als die Regierung sind”. Die Folge ist für Quaissa einfach – aber auch erschreckend – denn durch diese neue virtuelle Bewegung „kann das überall, auf der ganzen Welt, losgehen”.
Um die aktuellen Geschehnisse in der arabischen Welt verstehen zu können, blickt der Diskussionsteilnehmer Atef Botros zunächst auf die letzten Monate, die in Ägypten schließlich zu den heutigen Protesten führten. Der Mitarbeiter am Centrum für Nah- und Mittelost-Studien an der Universität Marburg weiß: „In der gesamten arabischen Welt war die Luft in den letzten Jahren mit einer Revolution schwanger”.
Bei einem Rückblick zeigt sich, dass es speziell in Ägypten bereits im Oktober 2010 heiß her ging. Die damalige Präsidentschaftswahl wurde laut Botros „noch extremer und peinlicher gefälscht, als es die Ägypter gewohnt waren”. Dennoch glaubte der Wissenschaftler nie daran, dass das Volk tatsächlich einmal auf die Straße gehen würde – „Ägypter sind dafür viel zu lieb”. Doch spätestens mit der tunesischen Jasmin-Revolution als die erste in der arabischen Welt, schwand die Angst in den Köpfen der Menschen. Die Ägypter glaubten zum ersten Mal wieder daran, tatsächlich etwas verändern zu können, erläutert Botros.
Das Besondere und das Neue ist, „dass es eine Revolution durch junge Menschen ist, die ohne politisches Parteibuch oder eine bestimmte Ideologie agierten. Die Facebook-Generation.” Die Regierung rund um Präsident Mubarak habe die virtuelle Bewegung allerdings nicht ernst genommen und konnte sich nicht vorstellen, dass diese in der Realität ausbrechen könnte. Typisch für Mubarak, da er die Opposition noch nie ernst genommen hat und im Gegenteil gar verachtet. Dennoch schaffte er es in den vergangenen Jahrzehnten ein System der „Deko-Demokratie” zu erschaffen, so Botros weiter.
Was wollen die Demonstranten überhaupt?
Diese Frage warf die dritte Teilnehmerin der Diskussion in den Raum – Ivesa Lübben. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centrum für Nah- und Mittelost-Studien an der Philipps-Universität Marburg, lebte von 1990 bis 2004 selbst in Kairo und war dort als Journalistin und wissenschaftliche Autorin tätig.
Die Suche nach dem Zweck des Aufstandes ist dabei gar nicht so unwichtig. Denn zu Beginn ging es am 25. Januar – am sogenannten Tag des Zorns – lediglich um vergleichbar kleinere Einschnitte in Politik und Gesellschaft, um eine Verfassungsveränderung, mit dem Ziel eine demokratische Präsidentschaftswahl zu erreichen, die Aufhebung des Ausnahmezustandes und soziale Forderungen wie beispielsweise einen Mindestlohn. Erst, als diese friedliche Demonstration mit übelster Polizeigewalt niedergeschlagen wurde, erhielt der Protest deutlich mehr Feuer. Die gesamte Bewegung wurde durch die Gewalt zu einem Selbstläufer.
Besonders hervorheben will Lübben, dass „nicht nur der tunesische Funke dafür verantwortlich war – das notwendige ägyptische Brennmaterial war schon lange da.” Schon seit den 1980er Jahren gibt es immer wieder demokratische Forderungen wie freie Wahlen, „aber das autoritäre Regime hat es durch besondere Raffinesse geschafft, die Herrschaftsstrukturen immer weiter zu festigen.”
Die soziale Basis sei laut Lübben schon lange weggebrochen. Und parallel zur Jugendbewegung gab es bereits 2010 eine Welle an Arbeiterstreiks. Was vollkommen neu war, da Streiks in Ägypten generell verboten sind. Als dann schließlich auch noch die Justiz auf die Barrikaden ging und auf der Straße ihre Unabhängigkeit einforderte, wurden vielen Ägyptern die Augen geöffnet. „Plötzlicher erkannte das Volk, dass es ja Rechte hat”. Und diese forderten die Bürger nun mehr und mehr ein, erläutert Lübbe.
Auch, wenn in den Medien die beiden arabischen Länder Tunesien und Ägypten mit ihren Aufständen in einem Atemzug genannt werden, macht Rachid Quaissa deutliche Unterschiede aus. In Tunesien gab es einen friedlichen und relativ zügigen Abgang des Systems – das Regime hat schnell aufgegeben. Das liege vor allem daran, dass eine kleine, sehr homogene Gruppierung an der Macht gewesen war und es in Tunesien noch dazu kein mächtiges Militär gibt.
In Ägypten dahingegen herrsche eine große und heterogene Herrschaftsklasse, die nicht so leicht abdanken werde. Zudem wäre Ägypten auch ohne das starke Militär nicht denkbar – welches derzeit laut Quaissa allerdings gespalten zu sein scheint. Deshalb erwartet Quaissa einen regelrechten Krieg innerhalb des eigenen Volkes mit gravierendem Ausmaß.
Abschließend macht Quaissa noch einmal seinen Standpunkt deutlich und malt dabei eine schwierige Zukunftsentwicklung aus: „Ich glaube nicht an einen großen Regimewechsel in Ägypten. Auch wenn Mubarak früher oder später abdanken wird. Es wird keinen radikalen Umbruch geben.”
(Text und Fotos: Konrad Welzel)