Um kurz vor sieben läutet es zur ersten Schulstunde: Die G8b hätte laut Stundenplan Englisch heute, aber es ist ja kein normaler Tag. Ein katholischer Feiertag, ein evangelischer Kirchentag. Unter unmutgeladenem Gemurmel geraten die Schlafsäcke in Bewegung. Es ist der erste Morgen im Massenquartier, der „demontierbaren Schuleinheit“ einer Kölner Gesamtschule – deren demnächst hoffentlich anstehende Demontage die Schüler scheinbar teilweise schon vorweggenommen haben.
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Auf dem Weg von dort zum Duschcontainer wird spekuliert, ob das bei Anreise noch nicht angeschlossene Wasser mittlerweile fließt. Es fließt, wenn auch nur sporadisch in warmer Form. Schuldzuweisungen sind nur aus wenigen Mündern zu hören, man hat eher das Gefühl, das alles so gehört. Glücklicherweise hat der Tag eine zweite Chance zu beginnen: Nach Kaffee und Brötchen in der nahe gelegenen Gemeinde kann man den allgemeinen Zustand allmählich schon eher als der Kirchentagslosung gemäß bezeichnen.
Kein Nationalspiel unserer Nachbarn mit gelbem Nummernschild, sondern das Event für evangelische Christen aller Altersgruppen ist Grund dieser Erkennungszeichen.Im „Markt der Möglichkeiten“ in den Messehallen ist in der Tat vieles möglich: Interessante Einblicke bieten die vielen vertretenen Länder, von der Geschichte der Bibel in China bis zu den Tanzgruppen aus afrikanischen Ländern und deren Trommelkünsten. Immer wieder kann man auf seinem Streifzug durch die Hallen auch an Bühnen verweilen, auf denen Konzerte oder Podiumsdiskussionen stattfinden. Die vorderen Papphockerreihen müssen an keiner Bühne über Besuchermangel klagen. Neben evangelischen Gruppen in anderen Ländern sind auch zahlreiche Gruppen eingeladen, um den ökumenischen Dialog zu fördern: Freikirchen, Initiativen für christlich-jüdischen Dialog oder der deutsche Katholikentag.
Aber auch viele nicht spezifisch christliche Friedensinitiativen finden sich auf der Messe: Ich unterschreibe einige Briefe an Regierungschefs oder andere Machthaber, um Menschenrechte oder die Freilassung von politischen oder religiösen Gefangenen zu fordern. Angesichts der Bandbreite der Aussteller reicht die verfügbare Zeit wohl kaum aus. Man spricht gerne von „Vielfalt“, das böse Wort „Beliebigkeit“ möchte keiner hören. Die Mittagspause genieße ich selbstverständlich mit fair gehandeltem Kaffee, nach einem Blick ins Programmheft breche ich am mittlerweile frühen Nachmittag wieder in die Stadt auf.
Über die zum Fisch dekorierte Hohenzollernbrücke wechsle ich die Rheinseite. Nach einem Spaziergang entlang der „Kulturmeile“, der von unverstärkten Auftritten kleinerer Künstler bereichert wird, finde ich mich zum Gottesdienst auf dem Heumarkt ein. Eine Viertelstunde vor dem eigentlichen Beginn des Gottesdienstes bedauert ein Ansager, dass man wegen der Orkanwarnung Windstärke 9 nicht riskiere, den Gottesdienst zu beginnen.
Bei den Konzerten am Dom, zu denen ich ausweiche, weist man ebenfalls auf das Risiko hin, bricht jedoch das Programm nicht ab. Als auch nach einer Stunde nichts von einem gefährlicheren Sturm zu spüren ist, schließt man, dass die Meteorologen wohl die Connections der Kirchentagsbesucher unterschätzt haben.
Per Pendelbus geht es um halb sieben zum Highlight des Tages: Dem Konzert „a capella für alle“ der Kindernothilfe auf den Poller Wiesen. Hier wechseln sich Interviews und Reportagen zur Lage der Kinder, die an Aids und Armut leiden, mit musikalischen Darbietungen ab. Mit der Zeit füllt sich der Platz immer weiter, doch durch die Präsenz von Helfern des Kirchentages, der Feuerwehr und der Johanniter läuft alles geordnet ab. Oder doch eher durch die Moral der Teilnehmer, die zwischenzeitlich aufgefordert werden müssen, Wege und Notausgänge freizuhalten?
Um meinen Standort nach dem Besuch des Plastiktoilettenhäuschens wiederzufinden, präge ich mir die Umgebung gut ein und ziehe gedankliche Linien zwischen Lautsprechern und Schildern. Es hilft nur bedingt, vor allem weil man während der Fortbewegung eher auf Füße, Hände und Rucksäcke als auf sein Ziel achten kann.
Als die „Wise Guys“ schließlich die Bühne betreten, erreicht die Stimmung neue Dimensionen: Nur noch wenige Besucher bleiben sitzen, La-Ola-Wellen nehmen ihren Lauf durch die Menge. Selbst in den weit hinteren Reihen scheinen sich viele eingefleischte Fans zu befinden, die alle Texte der Lieder auswendig mitsingen, mit Ausnahme der neuen natürlich. Neben dem Kirchentags-Song werden auch Klassiker wie „Techno“ oder „Jetzt ist Sommer“ gesungen. Gemeinsam mit vielen anderen Besuchern unterschreibe ich einen Brief an die Regierungschefs von Deutschland, Südafrika und Russland, heute morgen ging es schließlich um andere Forderungen.
Als das Konzert, von der Bühne schon zum guinessbuchwürdigen „größten a-capella-Konzert der Welt“ ausgerufen, schließlich eigentlich zu Ende sein soll, erreicht das Publikum noch mehrere Zugaben, unter anderem den „Ohrwurm“. Dieser begleitet die Besucher auch auf dem längeren Weg durchs Industriegebiet zu den Pendelbussen, die zurück in die Stadt führen. Vereinzelte Anklänge an G8-Demo-Schlager können sich nicht durchsetzen, schließlich herrscht schon Frieden für diesen Moment. Weniger Ruhe und Frieden, sondern die Müdigkeit ermöglichen schließlich den schnell beginnenden und ununterbrochenen Schlaf, den ich auch brauche für die nächsten Kirchentags-Tage. Am nächsten Morgen hat man den Gong abgestellt.
(Text und Fotos: Sebastian Helwig)