Mystisch. Fremd. Durcheinander. Mit einer düsteren Vergangenheit? Zumindest in jüngster Geschichte. Schon über 30 Jahre ist Afghanistan gebeutelt von Krieg, Armut und den unmenschlichsten Grausamkeiten. Anders kennen wir, im zivilisierten Westen der Welt, die Krisenregion Zentralasiens auch nicht mehr. Soldaten der ISAF-Schutztruppen (International Security Assistance Force) ziehen in einen der gefährlichsten Kriege unserer Zeit. Die Chinesen haben ein passendes Sprichwort: „Mögest du in interessanten Zeiten leben.” Und interessante Zeiten sah Afghanistan wahrlich genug. Im Moment sehnt sich das Land eher nach Ruhe.
[divide]
Warum gibt es immer noch Gebiete auf der Welt, in denen sich Menschen aus offensichtlich nichtigen Gründen gegenseitig den Verstand aus dem Schädel bomben? Oft liegen derlei Konflikte viel tiefer, als es oberflächliche Medien berichten. Was die meisten Menschen den Nachrichten entnehmen können, ist stark vereinfacht: Islamverrückte Taliban terrorisieren Land und Leute, ausländische Streitkräfte versuchen sie in den Griff zu kriegen und der Bevölkerung beim Wiederaufbau Afghanistans zu helfen. Bilder von mit Totenköpfen posierenden Soldaten machten weltweit Schlagzeilen, eine Frau und zwei Kinder starben erst kürzlich durch Schüsse deutscher Militärangehöriger.
Im Rahmen des ISAF-Mandates sind rund 53 000 Soldaten aus etwa vierzig Ländern in Afghanistan im Einsatz. Deutschland, Schweden und Norwegen waren bzw. sind im Norden und Kabul tätig, Italien im Westen, Kanada, Großbritannien und die Niederlande unterstützen US-Truppen vorwiegend im Süden. Die Konflikte zwischen Stämmen und Völkern nehmen weiter zu, genau wie die Anzahl der Selbstmordanschläge wortwörtlich explodiert. Die Hilfe ist groß, dennoch gibt es viel zu tun. Ein Problem ist auch, dass viele kleine Siedlungen und einzelne Familien aufgrund der stark zerstörten Infrastruktur nur schwer zu erreichen sind. Was viele Aktionen gefährlich macht, ist die Tatsache, dass in einigen Gebieten immer noch Talibananhänger das Sagen haben.
Um allerdings einen demokratischen und eigenständigen Staat zu schaffen, müssen selbstständige Menschen geformt und ausgebildet werden. Hilfe bekommt Afghanistan auf finanzieller Basis; Terrorbekämpfung, der Wiederaufbau des Landes sowie die wirtschaftliche und soziale Entwicklung stehen an erster Stelle. Seit 2002 hat Deutschland die führende Rolle im Polizeiaufbau: Mit internationaler Hilfe und der von Feldjägern der Bundeswehr haben deutsche Beamte schon über 22 000 Polizisten erfolgreich ausgebildet. Man kümmert sich zudem um eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung, Wasser- und Energieversorgung – vorwiegend mit erneuerbaren Energien – Grundbildung, Gesundheitsfürsorge, Minenräumung und Stärkung der Menschenrechte.
Das Vertrauensverhältnis zu den Nachbarstaaten, besonders Pakistan, soll aufgebaut werden, um erneuten Konflikten vorzubeugen. Die Aufgabengebiete sind breit gefächert, doch Erfolge wie 3 500 neu errichtete Schulen und steigende Schüler- sowie Studentenzahlen zeigen, dass die Bevölkerung auf die internationale Hilfe vertrauen will. Eine Investitionsförderagentur lässt neue Unternehmen entstehen und schafft Arbeitsplätze. Besonders erfreulich ist auch die Entwicklung der Medienlandschaft, deren Informationsangebot breit gefächert sowie durchaus regierungskritisch und kontrovers ist.
Achtzig Prozent der Bevölkerung hat mittlerweile Zugang zu gesundheitlicher Basisversorgung und dennoch liegt die durchschnittliche Lebenserwartung bei nur fünfzig Jahren. Eine der niedrigsten der Welt. Viele durch die Kämpfe verwitwete Frauen können das Angebot der Bildung nicht in Anspruch nehmen. Sie müssen, oft immer noch in ihre Burqas gehüllt, auf den Straßen betteln gehen um ihre Kinder zu versorgen.
Eine wesentliche Ursache der Probleme Afghanistans steckt sicher auch in dessen Geschichte, die eng mit den Nachbarländern zusammenhängt. In der Antike gehörte das Gebiet zum Perserreich und wurde später von den Nachkommen der Truppen Alexanders des Großen regiert. Es folgte die Invasion muslimischer Araber, die Durchsetzung des Islam dauerte bis zum Mittelalter an. Mitte des achtzehnten Jahrhunderts wurde ein selbstständiges Königreich gegründet, das als Vorgänger des modernen Afghanistan galt, allerdings an inneren Streitigkeiten bald wieder zerbrach.
Großbritannien versuchte Mitte des neunzehnten Jahrhunderts das Land in das Britische Imperium in Indien einzugliedern und hatte schließlich nach fast 45 Jahren Krieg Erfolg. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts gab es einen letzten Befreiungsversuch Afghanistans und 1919 wurde es schließlich, nach mehr als 60 Jahren britischer Vorherrschaft, als souveräner und unabhängiger Staat anerkannt. Allerdings verlor man einen großen Teil der Gebiete an Großbritannien, die diese dann später an Pakistan abtraten.
Seit 1933 war Afghanistan ein konstitutionelles Königreich, das 1973 einer Republik wich, die fünf Jahre später von den Kommunisten übernommen wurde. Während dieser Zeit war Afghanistan ein wirtschaftlich blühendes Land, mit neuen Asphaltstraßen, aufstrebenden Geschäftsmännern und vor allem: glücklichen, spielenden Kindern. Nur ein Jahr später marschierten sowjetische Truppen ein, um die langsam einstürzende Regierung zu unterstützen.
Zehn Jahre kämpften sie gegen islamistische Guerillas, die sogenannten Mudschaheddin, die unterstützt wurden von den USA, Saudi-Arabien und Pakistan, bis die Sowjets wieder abzogen. Die Regierung hielt sich noch bis zur Einnahme Kabuls 1992 durch die Mudschaheddin, danach begannen die verschiedenen Gruppierungen sofort, sich gegenseitig zu bekämpfen. Ein erneuter, dreijähriger Bürgerkrieg entflammte. Einer der tieferen Gründe für solche Konflikte ist, dass sich Afghanistan aufgrund seiner bewegten Geschichte zu einem Vielvölkerstaat entwickelte. Doch auch das sollte gerade heute, in der angeblich so toleranten Welt, doch kein Problem sein!? Wären da nicht allein acht Ethnien, wie die Paschtunen, Tadschiken und Hazara, sowie schätzungsweise 57 verschiedene Sprachen, die allein die Kommunikation der circa 28 Millionen Menschen fast unmöglich machen.
Aufgrund des jahrzehntelangen Krieges wurde zum Beispiel auch noch nie eine Volkszählung in Afghanistan durchgeführt. Traditionelle Herrscher des Landes waren die Paschtunen, deren Sprache Paschto heute neben Dari eine der beiden Amtssprachen ist und die auch heute noch die bevölkerungsreichste Gruppe bilden. Sie stellten die Mehrheit der Taliban-Bewegung und versuchen noch heute, angeblich als rechtmäßige und einzige Ureinwohner Afghanistans, kleinere Bevölkerungsgruppen zu unterjochen, indem sie eine menschenunwürdige, fast schon geisteskranke Auslegung des Islam für sich benutzen. Von Pakistan aus begannen sie, das Land zu erobern.
Bis 2001 beherrschten sie über neunzig Prozent der Gesamtfläche Afghanistans, das nun ein Islamisches Emirat war. Die einzig verbleibende Option war die Nordallianz, die verzweifelt versuchte, die Taliban aufzuhalten. Den Frauen wurden jegliche Rechte abgesprochen und von den Terroristen für jegliche Zwecke benutzt und missbraucht. Der Opiumanbau wurde verboten, die Taliban verdienten jedoch munter weiter Geld damit. Musik, Sport und Fernsehen wurden verbannt, fast sämtliche Schulen und Universitäten geschlossen und Männer mussten Bärte tragen.
Seit dem Anschlag auf New York am 11. September 2001 blickt die Welt schärfer auf Afghanistan. Im Oktober desselben Jahres führte die USA eine Invasion im Lande durch. Gerechtfertigt wurde diese durch einen Entschluss des UN-Sicherheitsrats, der ihnen das Recht auf Selbstverteidigung zusprach. Allerdings sind deren Methoden, gerade bei der Inhaftierung von mutmaßlichen Terroristen in Guantanamo, seit jeher fragwürdig. Mit Hilfe der Nordallianz wurden die Taliban gestürzt.
In Bonn beschlossen im Dezember 2001 Führer der ehemaligen Mudschaheddin sowie afghanische Exilgruppen auf der Petersberger Konferenz einen Stufenplan zur Demokratisierung des Landes. Der paschtunische Stammesführer Hamid Karzai ist seit 2004 demokratisch legitimierter Präsident der neuen Islamischen Republik. Zum ersten Mal in der Geschichte Afghanistans fanden demokratische Wahlen statt. Weitere Konferenzen folgten, Anfang 2006 schloss man den „Petersberger Prozess” mit der Verabschiedung des „Afghanistan Compact” erfolgreich ab. Unsere Kinder werden davon in ihren Geschichtsbüchern lesen. Vielleicht auch davon, wie Osama Bin Laden einmal gefunden wurde.
(Text: Katrin Kircheis)