Entspannt, grinsend, redwillig und einfach nur glücklich. Hier ein Späßchen, dort wird geplaudert. Dr. Michael Nagel hatte viel zu lachen in den letzten Tagen. Aber dafür gab es ja auch einen Grund – einen Grund, der nahezu ganz Deutschland so kurz vor den Festtagen in Emotionen versetzt hat. Marco Weiss (17) aus Uelzen wurde nach 247 langen Tagen aus türkischer Untersuchungshaft entlassen. Ohne Auflagen. Ein Erfolg, den sich Dr. Nagel zumindest teilweise zuschreiben darf.
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“Für alle, die auf Marcos Seite standen, war dieser Freitag ein großartiger Tag. Für die, die es anders herbei gesehnt haben, war es endlich mal so ein Tag, wie wir ihn fünf, bzw. sechsmal, erleben mussten”, kommentiert der Verteidiger noch sichtlich beeindruckt von den Geschehnissen der letzten Tage. „Wir sind einfach durch die Menge durch und ich dachte nur, jetzt krieg ich gleich ne Kamera aufn Kopf.
Alle sind hinter uns her, es war fürchterlich”, beschreibt er die Momente, nach dem sein Mandant wieder ein freier Mann war. Während sich sein Schützling jetzt irgendwo in der Nähe von Nürnberg an einem geheimen Ort aufhält, plaudert der Hannoveraner über seinen „nicht schwierigsten, aber doch einen einmaligen Fall” in der Türkei.
Einmal habe er das Wort Justizskandal in den Mund genommen. Wiederholen wolle er es nicht mehr, denn es handle sich um ein laufendes Verfahren. Aber die Rechtsmängel sprach er trotzdem an. „Wider Gesetz wurde sofort ein Rechtshilfegesuch eingeleitet, das eine kommissarische Vernehmung vorsieht. Und dabei wurden nicht einmal die Mindeststandards gewahrt.” Normalerweise wird das Gericht über den Termin der Vernehmung in Kenntnis gesetzt, somit könnte auch die Verteidigung informiert werden. Das war allerdings nicht der Fall.
Aber nicht nur die Nicht-Vernehmung von Charlotte vor Gericht kritisierte der Anwalt. Fett weg bekam vor allem die Mutter des vermeidlichen Opfers. Die hatte sich bis dato nicht bei der Verteidigung gemeldet. „Wir können uns ja von unserer Seite aus nicht mit ihr in Verbindung setzen, weil unter Umständen falsche Eindrücke entstehen würden.” Charlottes Mutter hätte das Verfahren schnell beenden können, wenn sie ihrer Pflicht als Mutter, weitere Belastungen von ihrer Tochter abzuhalten, nachgekommen wäre.
Marco soll im April in der Türkei die 13-jährige Charlotte sexuell missbraucht haben. Er sagte über die gesamte U-Haft-Dauer, dass die Handlung beiderseits einvernehmlich war. Und diese ist nicht strafbar, wenn das Mädchen 15 gewesen wäre, wie sie es Marco vorgaukelte. „Nach Marcos Aussage ist die Annäherung nicht strafbar, weil es ein Tatbestandirrtum ist”, erklärt der Anwalt. Die Aussage von Charlotte, Marco habe gewusst, dass sie erst 13 ist, bezeichnete Nagel als „völligen Quatsch”.
Dass nun das Rechtssystem in der Türkei am Pranger steht, versteht Dr. Nagel nicht. Immerhin wurde das erst vor kurzem verabschiedete Gesetz in der Türkei zur Annäherung an die EU geschaffen. Die Türken wollen beitreten und verschärften somit die Strafe für Sexualstraftäter.
„Dass das Verfahren bisher katastrophal verlief, hat weder was mit der Türkei, noch mit der Justiz noch mit der Frage, ob die Türkei ein Rechtsstaat ist, zu tun”, äußerte sich der Türkei-Freund deutlich. „Ich werde weiterhin ein Freund der Türkei bleiben. Wir reden hier nur von einem Gerichtsverfahren.”
Da habe eine EU-Beitrittsdiskussion nichts zu suchen. Genau diese Eingriffe sollen dem Verfahren massiv geschadet haben. „Diese zahlreichen unsachlichen Einmischungen haben auch in der Türkei zu einer Polisierung geführt.” Alles war aber nicht schlecht, so führten einige notwendige Eingriffe auch für Verbesserungen der Haftbedingungen.
In den ersten drei Monaten, in denen Marco in Haft saß, gab es kaum Öffentlichkeit für den Fall. Erst als die Eltern in genau diesem Zeitraum um das Leben ihres Sohnes bangten, wandten sie sich an die Medien. Ohne die leiseste Ahnung, was für eine Lawine sie auslösen würden. Sie wollten den Schutz der Öffentlichkeit für ihren Sohn. „Dass dann solche schwachsinnigen politischen Äußerungen getätigt werden, die das alles in ein anderes Licht bringen, als das ursprünglich beabsichtigt war, das mag dahin gestellt sein. Und dass Anwälte im Spiel waren, die damit nicht umgehen konnten und das nicht abbremsen konnten, das ist eine andere Schattenseite”, erzählt der Hannoveraner. Trotzdem erhielt Marco den Schutz, den die Eltern sich erhofft hatten.
Seine Mutter konnte ihn wöchentlich für zehn Minuten über Trennscheibe besuchen, einmal im Monat ohne Scheibe und länger. Er konnte faxen, telefonieren und Briefe erhalten. „Er hat gewisse Rahmenbedingungen bekommen, die besser als vorher waren und sicherlich Grundlage dafür waren, dass er das überstanden hat.”
Viele Deutsche konnten jenen Moment sehen, als Marco dann zum ersten Mal in Freiheit seine Mutter in den Arm nehmen durfte. Als er seinen Bruder nach acht Monaten zum ersten Mal wiedersah. RTL begleitete den 17-Jährigen sogar im Privatjet nach Nürnberg. „Es war notwendig, den Jungen vor weiterer medialer Penetranz zu schützen.
Die ersten Informationen, die die gesamte Bevölkerung haben will, müssen geschützt rausgehen. Wenn man ihn einfach so nach Uelzen zurückschicken würde, würde ihm eine Meute hinterherlaufen, so wie es uns ging, als wir aus dem Gerichtssaal kamen. Jede erste Information würde so teuer verkauft werden, das konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen.”
Trotzdem scheint die notwendige Anwesenheit eben dieser Journalisten den Jungen zu verunsichern. Marco leide schon an der Anwesenheit von zwei Medienmachern. Er äußert sich nur in Gegenwart von Vertrauten, jeder Fremder sei ihm ein Fremder zuviel. „Er braucht Ruhe und er will nach Uelzen zurück”. Das soll dann im kommenden Jahr möglich sein. Die Medienpräsenz wird hoffentlich sinken und Marco kann wieder ganz normal zur Schule gehen, wie alle anderen Jugendlichen in seinem Alter auch.
Welche Schäden seine Seele in den letzten acht Monaten erleiden musste, wird sich erst nach einiger Zeit zeigen. „Er ist ein großartiger Junge, ich bin absolut begeistert von ihm. Er sieht gefasst aus, ist im Moment völlig euphorisch. Aber er ist mit absoluter Sicherheit traumatisiert.” Im Moment erlebt Marco eine Welle der Prominenz, die ihm unheimlich sein dürfte.
Überall kennt man seinen Namen, seine Geschichte und auch seinen ersten Ausflug in die Mädchenwelt. „Er hat trotz seiner 17 Jahre verstanden, dass die Geschichte eine große Geschichte war, aber dass er noch lange kein Promi ist.” Eigentlich möchte er nur sein altes Leben wieder zurück. Freunde, Verwandte und Bekannte wieder sehen. Diejenigen, die dieses Leid acht Monate miterlebt und mitgefühlt haben und nach Bekanntgabe der zurückgewonnen Freiheit Autocorsos veranstalteten.
Aber wie geht jetzt eigentlich das Verfahren weiter? Marco ist zwar ohne Auflagen frei gekommen, ein Urteil gibt es nicht. Am 1. April soll die Verhandlung in der Türkei weitergehen. „Es gibt keine Gefahr, wenn er wieder in die Türkei geht. Die Sach- und Rechtslage ist eindeutig. Er muss sich dem Verfahren stellen. Um seine Ehre wiederherzustellen und sicherzustellen, dass kein Makel an ihm hängen bleibt.” Große Worte, die Dr. Nagel da ausspricht. Experten wie der Rechtsanwalt Dr. Cünyet Gencer gehen unterdessen davon aus, dass es so weit gar nicht kommen wird. „Der Verteidiger kann das hier nur so ruhig sagen, weil es diesen Termin in der Türkei nicht mehr geben wird. Das Verfahren wird an Deutschland übergeben.”
Fakt ist, dass die Anwälte von Marco bereits Kontakt zu den deutschen Justizministerien und der Generalstaatsanwaltschaft aufnahm. „Wir werden uns in Kürze zusammensetzen. Dann weiß ich, ob es klappt oder nicht”, äußert er sich noch etwas zurückhaltender. Vorteil an der Übergabe an die deutsche Justiz wäre auch, dass die Anwälte und Gerichte in Großbritannien keine Anstalten machen könnten, das Verfahren nach Großbritannien zu verlegen.
Übrigens kündigte Ömer Aycan, Anwalt von Charlotte letzte Woche an, dass er Dr. Nagel wegen unzulässiger Beeinflussung des Gerichts verklagen wolle. „Darüber kann ich nur lachen. Das ist wirklich der größte Witz, den ich in diesem Verfahren erlebt habe. Das sind Nebenkriegsschauplätze. Er disqualifiziert sich selbst.”
(Text: Miriam Keilbach)