Jan Becker ist Student und Sprecher des unabhängigen Informationsnetzwerks gegen Atomenergie contrAtom. Mit back view spricht der 27-Jährige über das oberste Ziel der Organisation: Ein sofortiger Ausstieg aus der Nutzung der Atomenergie.
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back view: Union und FDP haben beide in ihren Wahlprogrammen angekündigt, die Laufzeit von „sicheren” Atomkraftwerken verlängern zu wollen – das Deutsche Atomforum feiert das Ergebnis. War die Bundestagswahl der Untergang des Atomausstiegs?
Jan Becker: Die Bundestagswahl wurde von schwarz/gelb nicht wegen ihrer positiven Haltung zur Atomenergie gewonnen, sondern trotz dieser Haltung. Mehrere repräsentative Umfragen vor der Wahl haben deutlich gezeigt, dass die Mehrheit in Deutschland keine Laufzeitverlängerung will, sondern sogar einen schnelleren Atomausstieg möchte. Unserer Einschätzung nach möchten die Menschen nach vier Jahren großer Koalition und gefühltem „Stillstand” endlich wieder Bewegung spüren – aber möchten keine weiter anwachsenden Atommüllberge. Schwarz/Gelb hat angekündigt, „weniger sichere” Meiler schneller stilllegen zu wollen. Wir begrüßen diese Entscheidung, da jedes AKW, welches stillgelegt wurde, ein Pluspunkt ist. Die Diskussion um „sichere” und „weniger sichere” Reaktoren halten wir allerdings für eine Farce: Der Super-GAU, also ein Unfall mit schlimmsten Folgen für Mensch und Umwelt, ist in jedem Kraftwerk jederzeit möglich.
Damit ist der Atomausstieg keinesfalls beerdigt – nur geht der Kampf für die sofortige Stilllegung der Atomanlagen selbstverständlich weiter. An bestimmten Meilern, die länger laufen werden, wird sich der Protest zuspitzen.
Vor einem Jahr haben Sie im Interview mit back view gesagt, dass „sich der Widerstand wieder radikalisieren” würde, wenn die Atomkraftwerke in Deutschland nicht abgeschaltet werden. Was erwarten Sie in den kommenden Wochen und Monaten?
Am Beispiel Gorleben erleben wir zunehmenden Protest: Innerhalb von zwei Wochen fanden zwei Besetzungen des Geländes durch entschlossene Atomkraftgegner statt. Immer mehr Menschen zeigen deutlich, dass sie mit der angekündigten Aufhebung des Baustopps und damit der Gefahr, dass Gorleben die Atommüllkippe der Nation wird, nicht einverstanden sind. „Radikal” hat in unseren Augen nichts mit „Gewalt” oder gar „Bürgerkriegs-ähnlichen Zuständen” zu tun, sondern mit Entschlossenheit. Kommt der nächste Castor nach Gorleben oder Ahaus oder sonst wohin, werden es mehr Menschen sein, die sagen „jetzt erst recht”.
Am 10. Oktober wurde in Berlin das „längste Anti-Atom-Transparent der Welt” gebildet. Können Atomgegner damit tatsächlich ein Zeichen setzen?
Selbstverständlich arbeiten all unsere Aktionen mit einer gewissen Form der Symbolik. Allerdings sprechen 50 000 Menschen vor dem Brandenburger Tor, die den Atomausstieg fordern, eine deutliche Sprache. Die Anti-Atombewegung hat es durch vielfältige, bunte Aktionen geschafft, dass schwarz/gelb sich der Diskussion um das Thema „Atomenergie” stellen muss. Niemand kann Gorleben mehr unter den Teppich kehren. Heute muss öffentlich Stellung bezogen und Verantwortung übernommen werden, was im einsturzgefährdeten Endlager Asse-II schief gelaufen ist. Das ist ein Verdienst der Anti-Atom-Bewegung.
Warum schreckt die Politik selbst nach den häufigen Störfällen der vergangenen Monate in deutschen Atomkraftwerken nicht vor Laufzeitverlängerungen zurück? Was ist das reizvolle an der umstrittenen Atomenergie?
Ein Atomkraftwerk beschert dem Betreiber einen Reingewinn von einer Millionen Euro pro Tag. Betreiber müssen wirtschaftlich handeln. Daher sind sie in der Pflicht, ihre Anlagen – unter welchen Vorraussetzungen auch immer – zu betreiben. In der Vergangenheit wurden Gesetze und Regeln entsprechend gestaltet, um einen möglichst reibungslosen Betrieb der Reaktoren zu gewährleisten. Ein Beispiel sind die radioaktiven Emissionen im Normalbetrieb oder Auslegungen gegen Unfälle. Mithilfe von mathematischen Wahrscheinlichkeitsrechnungen werden die Risiken vertuscht – und die Bevölkerung wiegt sich in Sicherheit. Doch nicht einmal für den Katastrophenschutz im Falle eines Unfalls mit Radioaktivitätsaustritt sind die Behörden und Betreiber gewappnet. Binnen weniger Stunden müssten Großstädte komplett evakuiert und für Jahre umgesiedelt werden – was faktisch unmöglich ist.
Waren die Störfälle in der Häufigkeit ein unglücklicher Zufall oder ein absehbares Risiko, das in Kauf genommen wird?
Atomkraftwerke sind technische Anlagen, die auf bestimmte Laufzeiten ausgelegt sind. Zwar beteuern die Betreiber immer wieder, stetig und in Millionen-Höhe zu investieren, aber bestimmte sicherheitsrelevante Bauteile können schlichtweg nicht ausgetauscht werden. Betrachten wir die Sicherheit gegen einen Flugzeugabsturz, wird klar, dass für einen effektiven Schutz die Betonhülle eines Reaktors komplett erneuert werden müsste. Störfälle in ihrer Häufigkeit sind bei Anlagen, deren Komplexität die Ingenieure selbst nur in Teilbereichen überschauen können und, für die es dicke Betriebshandbücher mit Anweisungen für den Ablauf bei zum Beispiel einem Störfall gibt, vorprogrammiert. Immer wieder werden Leckagen bei zufälligen Überprüfungsarbeiten gefunden oder gar Manipulationen festgestellt- oder die Feststellung gemacht, dass bestimmte Unfall-Szenarien beim Bau der Anlage nicht bedacht wurden.
Letztlich bleibt festzustellen, dass in den meisten Fällen der Mensch die Schwachstelle im System darstellt. Auch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl kann auf menschliches Versagen zurückgeführt werden. Und die Sicherheit eines Atomkraftwerks gegen den Eingriff eines Menschen zu sichern, ist schlichtweg unmöglich und unrealistisch.
Ist es nicht sinnvoller, in Deutschland eigene sichere Atomkraftwerke zu betreiben, anstatt Strom aus den – womöglich weniger sicheren – Atomkraftwerken der angrenzenden Staaten zu importieren?
Das Deutschland ein Stromdefizit hat oder auf eine Stromlücke zusteuert und damit der Neubau von AKW oder deren Laufzeitverlängerung nötig ist, ist schlichtweg eine Lüge, die von namenhaften Wissenschaftlern und Instituten widerlegt wurde. Zur Zeit stehen sechs der 17 deutschen Meiler still – teilweise seit mehr als einem Jahr. Damit sind heute nicht mal 70 Prozent der nuklearen Kapazität überhaupt verfügbar. In der Bilanz exportiert Deutschland sogar noch Strom ins Ausland. Mit dem Ausbau der Erneuerbaren Energien und der Effizienz lässt sich eine Vollversorgung mit Strom aus Wasser, Wind und Sonne erreichen bzw. der Anteil an Atomenergie leicht ersetzen. Auch das ist vielfach in Studien dargelegt worden. Was es braucht sind Investitionsprogramme in Zukunfts-Technologien – und nicht in den Dinosaurier Atomkraft.
Laut Politik sind unsere Atomkraftwerke aber doch „sicher”?
Jedes Land, das Atomkraftwerke betreibt, erzählt seiner Bevölkerung, es hätte die „sichersten Atomkraftwerke”. Fakt ist, dass ein schwerer Störfall in jedem AKW auf der Welt zu jeder Zeit möglich ist. Mit diesem Hintergrund kann auch Deutschland nicht von „sicheren AKW” sprechen. Zumal ja laut schwarz/gelb in Deutschland plötzlich „weniger sichere” existieren sollen. Grundsätzlich gibt es keine vergleichbare Technik, die wegen eines kleinen Fehlers einen derart riesigen gesamtgesellschaftlichen Schaden anrichten kann.
Atomenergie wird aber nicht nur zu friedlichen Zwecken genutzt. Wie groß ist die Gefahr eines Atomwaffenkriegs heute?
In der einzigen deutschen Urananreicherungsanlage im westfälischen Gronau fallen große Mengen an abgereichertem Uran an, das zur Herstellung von Uranmunition genutzt wird oder genutzt werden könnte. Diese Waffen finden Einsatz in Afghanistan, Irak oder Israel u. a. und verseuchen die Kriegschauplätze für Jahrzehnte. Die dort lebenden Menschen bekommen Krebs, Kinder spielen zwischen radioaktiv strahlenden Panzerwracks, Neugeborene kommen mit Missbildungen auf die Welt. Es braucht nicht mehr den Einsatz einer Atombombe, um nukleares Material – zumal es sich bei der Uranmunition um Abfall aus der Herstellung von Brennstäben für AKW handelt – auf dem Erdball zu verteilen und grausames menschliches Leid zu erzeugen.
Wàs ist für Sie der beste Weg, den Deutschland nun einschlagen sollte?
Die vernünftigste Lösung, aus dieser atommüll-, abhängigkeits-, macht- und profitgesteuerten Technik auszusteigen ist die sofortige Stilllegung aller Atomanlagen – weltweit.
(Interview: Konrad Welzel / Fotos: contrAtom.de)