Weniger radikale Marktwirtschaft, mehr Demokratie und Umweltbewusstsein – so stellt sich Rebecca Harms die Zukunft der EU vor. Mit back view spricht die die 52-jährige Spitzenkandidatin der Grünen zur Europawahl über ihre Vision von der „Einheit in Vielfalt” und die Stolpersteine auf dem Weg in die Zukunft.
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Was sind Ihrer Meinung nach die größten Schwachstellen der EU?
Ich habe in den letzten fünf Jahren im Europaparlament die Erfahrung gemacht, dass wir viel mehr Öffentlichkeit brauchen für das, was auf der EU-Ebene passiert. Viele Bürgerinnen und Bürger sehen die EU mit Skepsis und empfinden “Brüssel” als zu weit weg. Die Bevölkerung muss verstärkt an den EU-Entscheidungen beteiligt werden und bessere Informationen darüber bekommen, was die EU konkret für sie leistet. So könnte Begeisterung für Europa geweckt und viele Vorurteile ausgeräumt werden. Das wäre dringend nötig.
Wo sehen Sie die Europäische Union in 20 Jahren?
Nach den Weltkriegen hat die EU erfolgreich unseren Kontinent vereint und in eine friedliche Zukunft geführt. Jetzt ist die Aufgabe, gemeinsam die Finanz- und Wirtschaftskrise, aber eben auch den Klimawandel anzugehen. Und da geht es gerade wirklich um eine Richtungsentscheidung. Ich hoffe, dass wir nach den Wahlen zum Europaparlament den Marktradikalismus überwinden können, der in den letzten Jahren viel zu häufig die EU-Politik dominiert hat. Wir brauchen ein soziales und ökologisches Europa der Bürgerinnen und Bürger, und ich hoffe, dass wir dem in den nächsten beiden Jahrzehnten entscheidend näher kommen.
Verliert die EU durch Diskussionen, wie zum Beispiel über den Beitritt der Türkei, an Glaubwürdigkeit und Vertrauen?
Der Türkei wurde vor rund 40 Jahren die Zusage gegeben, dass grundsätzlich ein EU-Beitritt möglich und gewollt sei. Das jetzt in Frage zu stellen und mit populistischen Konzepten wie einer “privilegierten Partnerschaft” auf Stimmenfang zu gehen, stärkt nur die Reformfeinde in der Türkei und schwächt die Glaubwürdigkeit der EU.
Damit die EU aber nicht das Vertrauen der eigenen Bevölkerung verspielt, müssen die Ängste der Bevölkerung ernst genommen werden. Wir müssen erklären, warum und mit welchen Kriterien wir Erweiterungspolitik betreiben, und dass wir eben nicht bloß drauf zahlen oder unsere Identität aufgeben.
Nennen Sie drei Schlagworte: Was macht Europa für Sie aus?
Das Prinzip “Einheit in Vielfalt” fasst sehr gut zusammen, was Europa bedeuten kann und sollte. Nur gemeinsam haben wir, die Bürgerinnen und Bürger Europas, die Chance auf eine friedliche Zukunft in Freiheit und Wohlstand. Wir können uns frei bewegen und andere Sprachen und Kulturen kennenlernen. Und gerade jetzt in Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise und des Klimawandels wird deutlich, dass die Nationalstaaten allein nicht mehr die Probleme lösen können, sondern dass wir das nur gemeinsam schaffen.
Dem Europäischen Parlament wird nachgesagt, es habe zu wenig zu sagen und die wahre Macht läge in Europa bei den Institutionen, die nicht von den Bürgern gewählt werden. Finden Sie, dass das Parlament mehr Einfluss haben sollte?
Das Parlament ist die einzige demokratisch legitimierte EU-Institution. Wir sind die Vertretung der Bürgerinnen und Bürger, und haben dafür zu sorgen, dass ihre Interessen berücksichtigt werden. Bisher können die Mitgliedstaaten und auch die Kommission weitreichende Entscheidungen treffen ohne das Europaparlament zu beteiligen. Da brauchen wir als Parlament dringend eine stärkere Rolle, um mehr Öffentlichkeit und Transparenz zu schaffen und um langfristig auch die Akzeptanz in der Bevölkerung zu stärken. Der Vertrag von Lissabon wäre da ein Schritt in die richtige Richtung.
Ihre Partei kämpft für den Atomausstieg. Wie schwierig ist es, dieses Ziel auf europäischer Ebene zu verfolgen?
Einige Weltfremde aus EU-Parlament und Kommission versuchen derzeit gemeinsam mit der Nuklearindustrie, den Klimawandel als Argument für einen europaweiten Wiedereinstieg in diese gefährliche und unzeitgemäße Technologie zu nutzen. Doch es gibt länderübergreifend nicht nur in der Bevölkerung sondern auch hier in den Parlamentsfraktionen ein breites Bündnis gegen die Atomkraft. Und ganz ehrlich: Wenn man sich das aktuelle Neubauprojekt im finnischen Olkiluoto anschaut, dann müssten selbst die strammsten Atombefürworter einräumen, dass Kosten und Bauzeiten völlig aus dem Ruder laufen, und dass die Milliarden besser in Erneuerbare und Energieeffizienz gesteckt werden sollten.
Sie haben gesagt: „Die Wirtschaftsrettung darf auf keinen Fall auf Kosten von Umwelt und Gerechtigkeit gehen”. Befürchten Sie, dass die EU wegen der Wirtschaftskrise ihre Klimaschutzziele aus den Augen verliert?
Ja, da müssen wir aufpassen. Während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2007 hat sich Angela Merkel noch als Klimakanzlerin feiern lassen. Ende vergangenen Jahres hat sie dann aber bei den Verhandlungen zum EU-Klimapaket ehrgeizige Abgasgrenzwerte blockiert. Und jetzt bringt sie die unter Umweltaspekten völlig kontraproduktive Abwrackprämie. Was wir brauchen ist doch nicht Absatzförderung von unzeitgemäßen Produkten, sondern eine zukunftsfähige Wirtschaft, mehr Effizienz und (Öko-)Innovationen, und auch Investitionen in Bildung und Soziales. Da sind die Steuermilliarden viel sinnvoller angelegt.
Halten Sie ein europaweites Verbot von Gentechnik in der Landwirtschaft trotz des Widerstandes aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik für ein realistisches Ziel?
Wir haben im Gorleben-Widerstand (der Anti-Atomkraft-Bewegung, Anm. d. Red.) ein Motto: “Parole: niemals aufgeben!” Das gilt auch für den Kampf gegen die Gentechnik. Und ich freue mich darüber, dass sich in den vergangenen Jahren immer mehr Regionen und Länder für gentechnikfrei erklärt haben. Wir brauchen in der Landwirtschaft mehr Klasse statt Masse, Bio statt Gentechnik. Wir sollten uns nicht leichtgläubig in Gefahr und Abhängigkeiten begeben.
Was ist Ihr Appell an die Wähler?
Europa eröffnet viele Möglichkeiten, und die EU wird immer einflussreicher. Wir müssen jetzt gemeinsam den Marktradikalismus und die Ressourcenverschwendung überwinden, und Europa sozial, nachhaltig und zukunftsfähig machen. Dafür stehen wir Grünen. Darum: Gehen Sie wählen – und wählen Sie Grün!
Frau Harms, wir danken Ihnen sehr für dieses Interview.
Weitere Informationen unter www.rebecca-harms.de
(Text: Timo Brücken / Foto: Rebecca Harms)