Life & Art

Nur auf Durchreise

Alles tun und das sofort. Wir sind so flexibel wie nie – wir reisen freiwillig ans Ende der Welt, nur um neue Erfahrungen zu sammeln. Wir ziehen mit Kind und Kegel für diesen einen Job um und haben unsere Verwandte über Länder verteilt. Doch bringt diese Schnelllebigkeit nur Vorteile mit sich?

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Der Vater meiner Freundin Jane wohnt in den USA, ihre Mutter ist nach der Scheidung auf Bali ausgewandert. Die Schwester Lara wohnt mittlerweile in Kanada, um dort zu volontieren und mit ihrem Freund hält Jane im Moment nur online Kontakt. Sie muss lange überlegen, als ich sie frage, wann der engste Kreis ihrer Familie das letzte Mal zusammen an einem Tisch gesessen hat. Vermutlich, weil das Ganze schon sehr lange Zeit her ist.

Die offene Gesellschaft
Im 21. Jahrhundert sind wir so flexibel wie noch nie. Wir bleiben nicht lange an einem Ort, sondern sind mal hier, mal dort. Allein nach der Schule stehen uns so viele Möglichkeiten offen, wie wahrscheinlich nie zuvor. Klar, es liegen Steine im Weg und viele Hindernisse müssen überwunden werden. Seien diese finanzieller, sprachlicher, kultureller Art oder äußerer Umstände verschuldet. Doch trotzdem gibt es da zahlreiche Chancen und offene Türen, die uns ständig begegnen.

Wir sind nicht mehr gebunden – weder räumlich noch zeitlich. Wir ziehen für ein Praktikum nach München, absolvieren den Bachelor in Köln, besuchen einen Spanischkurs in Madrid und beenden den Master in London. Dazwischen arbeiten wir als Au-Pair oder Werkstudent, machen ein Freiwilliges Soziales Jahr in Chile und versuchen parallel, uns selbstständig zu machen.

Es gibt heute nur noch Wenige, die immer an einem Ort bleiben. Die sich dort niederlassen, wo sie auch aufgewachsen sind oder ihr trautes Heim nie missen wollen. Es gibt da draußen viel zu viele Möglichkeiten, Erfahrungen und Erwartungen, die gemacht und erfüllt werden müssen.
Grenzen wollen überwunden und „Things to do before you die”- Listen abgehakt werden. Koffer müssen ständig gepackt, Postnachsendeaufträge bestätigt und Klingelschilder umgeschrieben werden. Und immer mit dabei ist die Suche nach dem perfekten Plan.

Vertikale und horizontale Mobilität
Durch Flexibilität und Mobilität verstärken wir unseren Wettbewerbsfaktor. Wer bereit ist, spontan ins Ausland zu gehen, Projekte zu übernehmen, die nicht im Plan vorgesehen waren und keine Probleme damit hat, für das Unternehmen an Ort und Stelle zu reisen, erhöht seine Chancen, auf dem Arbeitsmarkt seinen Platz zu finden. Die Erwartungen steigen ständig, Umschulungen werden angeboten und die Ansprüche immer höher. Es ist ein ständiger Kampf des Einzelnen, zwischen beruflichen und persönlichen Bedürfnissen die Balance zu halten.

Durch den technischen Fortschritt und die Globalisierung rückt die Welt nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich zusammen. Arbeitnehmer kommunizieren weltweit in Echtzeit miteinander, Grenzen zwischen Job und Privatleben verschwimmen und die kontinuierliche Erreichbarkeit ist zur Selbstverständlichkeit geworden. Begriffe wie Feierabend und Familie werden zum Fremdwort, Urlaube sind keine Urlaube mehr.

Komm ich heut nicht, komm ich morgen
Wir sind mal für ein Praktikum hier, planen nebenbei schon wieder den nächsten Auslandsaufenthalt, haben keine feste Bleibe, leben aus Trolleys und Plastiktüten. Es ist die Zeit, in der man sich ausprobiert, Smalltalk führt und die Szenerie dann schon wieder verlassen muss. Es bleibt keine Zeit, Zeit an einem Ort zu verbringen. Kaum sind wir da, sind wir schon wieder weg. Kaum baut sich Vertrauen auf, muss man schon wieder weiter.
Es ist heute so einfach wie noch nie, sich zu vernetzen, Freunde zu finden und Leute kennenzulernen. Die sozialen Online-Plattformen helfen uns, mit der ganzen Welt Kontakt zu halten und Vorteile aus den bisherigen Beziehungen zu ziehen. Irgendeiner kann einem immer helfen oder weiß es besser.

Gleichzeitig ist es so einfach wie noch nie, Vereinbarungen abzusagen oder zu verschieben. Wir können alle jederzeit und ohne Aufwand online, per Telefon oder anderer elektronischer Geräte auf unkomplizierte Art und Weise erreichen, was die Versuchung nahe legt, seine eh schon ungenauen Pläne spontan über den Haufen zu werfen. Ein Zusammenhalt besteht meist nur noch aus schwachen Verkettungen zwischen unterschiedlichen Beziehungspunkten, die ungezwungen auseinander gebrochen werden können.

Weak Ties
Es ist so schwierig wie noch nie, dass sich die Wege Zweier überschneiden, die sich gleichzeitig entscheiden, einander anzupassen und einen Teil der Strecke gemeinsam zu laufen. Lohnt es sich überhaupt, etwas anzufangen, wo man in drei Monaten doch eh schon wieder die Zwischenmiete kündigt und diesem Ort den Rücken kehren wird? Wir wissen eh nicht, wo wir in zehn Jahren sind, weil uns noch alles offen steht und noch so viele Möglichkeiten unseren Weg kreuzen werden.
Vielleicht treffen wir gerade den Mann unseres Lebens, aber um die Ecke kann schon die nächste Liebe warten, die alles noch mal toppen wird. Vielleicht treffen wir gerade eine wichtige Entscheidung, die den weiteren Lebensweg betrifft, aber doch beharren wir immer auf der Meinung, dass wir noch alles ganz anders machen könnten. Wenn nicht morgen, dann nächste Woche oder in einem Jahr.

Deswegen wollen wir uns nie wirklich festlegen, sondern immer ein paar Alternativen in Petto haben, die wir allen im Notfall präsentieren können. Wir wollen ausprobieren, abbrechen und neu versuchen. Doch die Gesellschaft zerbricht, wenn es keine Verbindlichkeiten, keinen Halt und keine Wurzeln mehr gibt, auf die man sich verlassen kann.

Mehr, mehr, mehr und das jetzt
Alles haben und noch viel mehr wollen. Überall gewesen sein und alles schon gemacht haben. Nirgends sind wir mehr so richtig – unsere Aufmerksamkeit verteilt sich in mehrere Sphären und der Druck steigt, nicht mithalten zu können. Spätestens unsere Facebook-Freunde halten uns mit ihren Statusmeldungen und Tags ununterbrochen vor Augen, wie langweilig unser Leben eigentlich ist, was wir noch alles machen und wie wir unsere Karriere noch weiter vorantreiben könnten.

Wir sollten immer den Mut haben, uns auszuprobieren, Neues zu erkunden, doch wieder aufzugeben und gleichzeitig persönliche Träume zu erfüllen. Aber vielleicht sollten wir auch irgendwann mal an dem Punkt ankommen, an dem wir nicht nur mehr, mehr, mehr wollen, sondern uns auch mal zurücklehnen. An dem wir kurz anhalten und uns zurückbesinnen, was wir eigentlich vom Leben erwarten und uns mit dem zufrieden geben, was wir haben – zumindest bis nächste Woche.

(Text: Christina Hubmann)

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Christina H.

Christina wollte eigentlich mal Busfahrer werden, ehe sie sich entschloss, doch "irgendwas mit Medien" zu machen. Schreiben tut sie nämlich schon immer gern. Und wie das Leben ohne dieses Internet funktioniert hat, fragt sie sich schon seit Längerem - erfolglos.

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