Niklas Welzel studiert an der Universität Wien Politikwissenschaft und Publizistik. Der 23-Jährige aus Bremen sieht in der aktuellen politischen Situation, die Gefahr von steigendem Rechtspopulismus ohne Solidarität. In den Studentenbewegungen der 1960er Jahre liegt in seinen Augen aber der Beweis, dass das Gemeinschaftsgefühl keine leere Floskel ist. Ein Mitglied der deutschen Linken im Interview über die Flüchtlingspolitik in Europa.[divide]
Welche drei Worte fallen Ihnen zur aktuellen Flüchtlingsproblematik ein?
Niklas Welzel: Klassenkampf, Faschismus, Ausbeutung.
Nach einer Studie des Royal Institute of International Affairs aus London geht es Migrationsskeptikern nicht um die Konkurrenz am Arbeitsplatz, sondern um Verlustängste der eigenen kulturellen Identität. Stimmen Sie dem überein und sind diese Ängste berechtigt?
Es kommt darauf an, von welchen Migrationsskeptikern man redet: jemand der Parolen schwingt oder der kleine Mann, der sich Sorgen macht. Das Wort ‚Migrationsskeptiker‘ bedeutet für mich, neuen Kulturen skeptisch gegenüber zu stehen, aber es erinnert auch an Faschismus und das ist eine Art Menschenfeindlichkeit.
Ich kann verstehen, dass Leute Angst vor dem sozialen Abstieg haben, nach der Krise 2007/2008 ist das sowieso vollkommen berechtigt. Wen ich nicht verstehen kann, sind die Leute, die diese Ängste ausnutzen. Migrationsskeptiker sind aus meinen Augen eher die, die verängstigten Menschen einfache Lösungen präsentieren und damit auf Stimmenfang gehen. Es ist leicht ein Feindbild zu schaffen, wie die Flüchtlinge oder die Juden. Sie erklären die Flüchtlinge zum Feindbild, die unsere Identität und unseren Wohlstand bedrohen. Sie sind rassistische Populisten.
So unberechtigt sind die Einwände der Migrationsskeptiker nicht. Sie bedrohen uns insofern, dass ihre Präsenz in den Flüchtlingsheimen Steuergelder kosten und viele neue Kulturen zu uns gelangen.
Klar, Integration ist eine große Herausforderung. Dennoch lässt sich jeder integrieren, wenn gut dafür gesorgt wird. Um kurz auf die Flüchtlingssituation in Deutschland im Sommer zu sprechen zu kommen: Die Zivilgesellschaft hat die Situation kurzzeitig zur Entspannung gebracht, nicht der Staat. Würde der Staat besser agieren, dann würde Integration einfacher gehen und Ängste würden nicht mehr so geschürt werden. Hier kommt die Frage auf, wieso der Staat das nicht macht. An Möglichkeiten mangelt es ihm nicht. Natürlich ist es schwer mehrere Kulturen zu vereinigen, aber es kommt auch immer aufs Individuum an. Ich habe Kumpels, die beten zu Allah, andere zu Gott und ich bin Atheist. Wieso soll das im Großen nicht funktionieren?
Die Ursache der Fluchtergreifung vieler liegt in unserem System, wie es aufgebaut ist, welche Konzerne es gibt und wie die Politik ausgerichtet ist. Die Flüchtlingszahlen sind die Anzeichen, sowie Umweltkatastrophen, für das starke Eingreifen des Menschen in die Umwelt. Und was die Steuergelder für Flüchtlingsheime betrifft: mit Blick auf den neuen Panama-Paper-Skandal ist das wirklich lächerlich.
Konkret werden es immer mehr Flüchtlinge?
Es werden immer mehr werden, das wird sich auch durch Obergrenzen oder Zäune nicht aufhalten lassen, schließlich haben zahlreiche Menschen auch ihr Leben auf dem Mittelmeer riskiert. Menschen fliehen vor Krieg, Hunger und Armut. Wenn sie in den Medien sehen, wie wir hier leben, ist es verständlich, dass sie herkommen. Nach über siebzig Jahren Frieden in Europa können wir uns Krieg gar nicht mehr vorstellen. Der Syrienkrieg ist einer der Fluchtgründe, andere sind zudem große Hungerskatastrophen in Afrika. Wenn dort Ressourcen unter anderem aufgrund des Klimawandels und unserem Konsum in der westlichen Welt, immer knapper werden, entstehen auch leichter Bürgerkriege. Es wird sich nicht verhindern lassen, dass Menschen sich dorthin bewegen, wo’s besser ist.
Die EU-Politik hat gezeigt, dass es Bewegungsfreiheit de facto nicht gibt. Ein Grund für Auflehnung oder Kritik?
Natürlich. Die Bewegungsfreiheit genossen wir bis vor kurzem in Europa durch das Schengen-Abkommen in großen Maßen. Nun gibt es eine Entwicklung hin zu Nationalstaaten, das Abkommen wurde eingeschränkt. Bewegungsfreiheit wird eingeschränkt, die Kapitalströme aber nicht. Kapital fließt aus allen Ländern. In Afrika werden Materialien für elektronische Geräte abgebaut und diese werden über die Grenzen hinaus verkauft. Menschen aber dürfen nicht die Grenzen überschreiten? Hier gibt es ein falsches Denken. Das Denken der Masse geprägt durch Institutionen wie die Werbewirtschaft, die Presse oder die Bildung in den Schulen, hat großes Potential für Veränderung, wird es nicht genutzt, werden wir unsere eigene Freiheit aufs Spiel setzen.
Es könnte gut funktionieren, wenn die Masse ihre normalen Bedürfnisse befriedigt – auch Luxusgüter, denn es ist normal, dass jeder Luxus haben möchte. Allerdings sollten wir nicht im abnormalen Sinn konsumieren, wie der Kauf eines Handys, das beispielsweise ein Jahr später für das neueste Produkt von Apple weggeschmissen wird. Die Ressourcen sind nicht unendlich, wir nehmen sie von irgendwo weg – die Menschen kommen nun von diesen Orten zu uns. Gerade ist die Reaktion darauf uns abzuschotten und trotzdem diese Waren und Ressourcen zu handeln und zu konsumieren. Eine viel größere Masse könnte davon leben. Dieses Problem ist schwer zu lösen.
Der Prozess der gerechteren Umverteilung sollte auf demokratischem Weg passieren, die ehemalige DDR mit ihrer Unterdrückung ist nicht das Ziel, vielmehr liegt der Weg zwischen Liberalismus und Solidarität. Bildung ist sicher ein Anfang, wo vernünftiges Konsumieren und Zusammenhänge des Weltgeschehens erklärt werden. Unser Handeln hier trägt viel dazu bei, wie es den Menschen woanders geht.
Welche Herausforderungen bringt eine multikulturelle Gesellschaft mit sich?
Hauptpunkt ist hier, wie zu erwarten, die Integration. Es geht darum, verschiedene Kulturen so zusammen zu bringen, dass sie in Frieden leben können. In Europa ist es auch wichtig, den aufklärerischen Gedanken beizubehalten, den wir über Jahrhunderte erkämpft haben. Der da wäre, dass die Freiheit der Bildung der Mittelpunkt der Gesellschaft sein soll. So kann anregender Diskurs und ständige Kritik an der Hegemonie, am Staat, ermöglicht werden.
Viele Flüchtlinge kommen aus sehr vom Islam vereinnahmten Ländern. Ihnen sollte klar gemacht werden, dass bei uns Religion nicht alles ist. Mit der regierenden CDU/CSU und der starken Vertretung der Kirche in Europa gibt es auch in unserer Politik eine sehr kirchliche Prägung, dennoch wurde schon ein erheblicher Teil der gesellschaftlichen Institutionen erheblich säkularisiert. Außerdem sehe ich nicht viel Sinn darin, dass Menschen das christliche Abendland verteidigen, wenn sie selbst das Christentum und seine Werte nicht wirklich leben. Das krasseste Beispiel wären rechtsnationalistische Hooligan-Krawalle zu Ostern in Brüssel, dessen Anhänger meinen in den Anschlägen erste Anzeichen für einen Religions- und Kulturkampf zu sehen.
Es ist eine große Herausforderung, der wir uns stellen müssen.
Es geht nicht darum zurückzustecken, sondern offen auf Andere zuzugehen und Stereotype abzubauen. Aufklärung ist hier das Stichwort – gerade jetzt sollte gezeigt werden, dass das Sinnbild des Islams keine Kalaschnikow ist. Ängste und Sorgen sollten nicht auf andere Menschen projiziert werden. Es sollte auch daran gedacht werden, an sich zu arbeiten. Was man am besten verändern kann, ist immer sich selbst und nicht andere.
Ich bezweifle unsere Selbstlosigkeit für eine solidarischere Welt. Wir schauen doch immer zuerst, dass es uns gut geht, wieso sollten wir auf unseren Lebensstil verzichten?
Da haben Sie Recht, das ist sehr schwer. Jeder muss auch egoistisch sein, sonst geht er unter – in der derzeitigen Welt. Wenn jeder selbstlos wäre, dann wär es super – eine utopische Vorstellung. Die Prinzipien von ‚Survival of the Fittest‘ und ‚Jeder ist sich selbst der Nächste‘ sind die Ursachen, dass immer mehr Konfliktherde auf der Welt entstehen.
Die Solidarität der Gesellschaft wird immer mehr zerstört. Die gab es mal, sonst hätte es keine Studentenunruhen in den 60ern gegeben. Da sind Studenten egal welcher Fachrichtung zu Politikvorlesungen gegangen, um sich zu informieren. Sie hatten die Zeit, weil nicht nur das eigene Ego im Vordergrund stand. Denn es wird uns jetzt immer suggeriert, dass wir die besten Noten und Abschlüsse in kürzester Zeit, Lebensläufe ohne Lücken haben sollen, Selbstoptimierung hoch zehn. Der Mensch lebt aber von Gemeinschaft.
Wenn jeder einzelne auf sich guckt, nimmt er die Umwelt gar nicht mehr wahr. So ist es auch für Machthaber viel leichter, ihre Macht zu missbrauchen, weil das Gegengewicht der Gemeinschaft fehlt. Voraussetzung für Frieden ist das Aufeinander-Zugehen. Eine wichtige Stütze ist daneben auch der Rechtsstaat, der garantiert, dass jeder vor dem Gesetz gleichbehandelt wird und der als Vermittler eintritt. Ich sage nicht, dass jedes Land ein Rechtsstaat nach europäischem Vorbild werden soll, es gibt indigene Völker, die schon viel länger friedlich zusammenleben, aber wir Europäer sollten unsere Errungenschaft, verschiedene Kulturen in Europa friedlich zusammengebracht zu haben, nicht leichtfertig aufgeben.
(Foto: Fotostudio primephoto Wien)