Eylül* wuchs in Ankara auf, mit 18 Jahren kam sie nach Österreich, um Deutsch zu lernen und zu studieren. Heute will die 21-Jährige wegen der politischen Situation nicht mehr in ihr Heimatland reisen.
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Kam der Putschversuch für dich überraschend?
Eylül: Ich habe gar nicht erwartet, dass so was passiert. In der Türkei gibt es eine Tradition von Putschs, es ist nicht das erste Mal. Auch wenn er für mich nicht vorhersehbar war, fuhr ich schon davor nicht in die Türkei, weil politisch gesehen gerade schlimme Zeiten herrschen.
Was hältst du von dem Gerücht, dass der Putschversuch von Erdogan inszeniert wurde?
Anfangs dachte ich auch, dass der Putschversuch nur inszeniert war, da Erdogan sich nicht viele Sorgen zu machen schien und nicht ins Ausland flüchtete. Vielleicht wusste er aber auch, dass der Putsch sowieso nicht funktionieren würde. Der Versuch dauerte sehr kurz, von einem Abend bis zum nächsten Morgen – mit ein Grund für solche Gerüchte. Nach dem Putschversuch rief Erdogan den Ausnahmezustand aus und erhielt damit mehr Macht um mit dem Leben von Menschen zu spielen, es war eigentlich sehr gut für ihn, dass es einen Putsch gab. Jetzt haben wir das schlechteste Szenario, das passieren konnte. Es wäre besser gewesen, wenn es keinen Putsch gegeben hätte oder wenn er zumindest gelungen wäre.
Was will die türkische Regierung deiner Meinung nach mit den „Säuberungen“ bezwecken?
Wer weiß – es ist nichts Neues, dass Leute ihren Job verlieren, weil sie irgendwas angerichtet haben, was Erdogan nicht mag. Natürlich haben jetzt diese Kündigungen ein neues Ausmaß angenommen. Vor Jahren sind Leute wegen Facebook-Posts gekündigt worden. Es ist keine Demokratie, wir haben auch keine Meinungsfreiheit. Wenn man ihn nicht unterstützt, ist man immer in Gefahr. Es hat nicht einmal etwas damit zu tun, ob du Gülen-Anhänger bist.
Wieso glaubst du, dass Erdogan in der Bevölkerung so beliebt ist?
Seine Beliebtheit ist unser Problem. Man sollte allerdings Türken in Deutschland oder Österreich anders betrachten, als Türken in der Türkei. Es ist etwas anderes, wenn ich in der Türkei wohne und jeden Tag damit konfrontiert bin, als wenn ich hier in einem sehr sozialen Land lebe, wo meine Rechte geschützt sind und sage, Erdogan ist super. Mich betrifft es noch, weil meine Eltern in der Türkei leben und ich jetzt nicht dorthin in den Urlaub fahren kann. Türken, die in der zweiten oder dritten Generation im Ausland leben und Erdogan unterstützen, betrifft es eigentlich gar nicht.
In der türkischen Bevölkerung gibt es eine hohe Schicht mit mehr Geld und Ausbildung, die auch die Möglichkeit haben ins Ausland zu reisen, sich intellektuell entwickeln und Erdogan nicht unterstützen. Das merkt man auch in der Türkei, sie leben liberaler und mehr wie Europäer. Auch der obere Teil der Mittelschicht sympathisiert nicht mit Erdogan. Die unteren Schichten unterstützen ihn, es sind ungebildetere Leute. Viele Menschen wanderten in der Türkei von den Dörfern in größere Städte wie Istanbul und Ankara aus. In den Dörfern gab es sehr schlechte Bildungssysteme, es gab einmal eine Förderung für bessere Bildung dort, die aber wieder in den 80ern abgeschafft wurde. Die Landbevölkerung ist auch religiöser als die in den Städten, dort haben Traditionen einen größeren Wert. Es gibt deswegen einen extrem Unterschied zwischen hohen und niederen Schichten. Es ist nicht so wie hier, wo du nicht einmal merkst, ob jemand mehr Geld hat als der andere – hier sehen alle gleich aus und haben die Chance sich weiterzubilden. Niedere Schichten in der Türkei fühlen sich von Erdogan vielleicht auch wegen der Religion angesprochen und sind sehr fanatisch. Religion ist mit einem Blick in die Geschichte immer gut für den Stimmenfang.
Die gebildetere Schicht wird immer kleiner, viele sind ins Ausland gegangen. In den 80ern gab es auch einen Putsch des Militärs, der aber glückte. Damals waren viele Jugendliche links und sehr revolutionär eingestellt, die meisten waren Universitätsstudenten. Die Militärregierung brachte sie um oder sie mussten flüchten, auch mein Verwandtenkreis war davon betroffen. Viele Menschen in der Türkei wollten sich danach nicht mehr mit Politik beschäftigen oder einmischen.
Erdogan-Unterstützer haben gute Beziehungen zueinander, geben sich Jobs und bilden Gemeinschaften, deshalb entschieden sich auch viele aus der Landbevölkerung ihm gegenüber positiv eingestellt zu sein. Meine Mutter arbeitet in einer Universität und eine der Lehrerinnen, hatte keine fixe Stelle und schaffte es nicht sie zu bekommen. Eines Tages fing sie an ein Kopftuch zu tragen und sie bekam die Stelle an einer anderen Universität gleich.
Seine Beliebtheit erklärt sich also durch mehreren Faktoren, auch weil seine Unterstützer weniger gebildet sind und Erdogan in seiner Machtinszenierung alles glauben. Ein weiterer Grund ist aber auch das Fehlen der freien Medien, wenn du jeden Tag dasselbe hörst und liest, wirst du es leichter glauben. Bei den Anschlägen in Brüssel lief in allen großen türkischen Fernsehsendern eine Rede des ehemaligen Premierminister Davutoglu, die Nachricht über die Anschläge waren nicht mehr als ein paar Bilder und eine Schlagzeile, die neben der Rede eingeblendet wurden. Auch Wahlwerbungen werden bei den Sendern gleichzeitig geschalten, damit ein Umschalten wegen der Werbung auf einen anderen Sender nichts bringt. Ein paar Zeitungen, viele im Internet, kämpfen noch. Sie bringen Fakten über die Türkei wie die Eröffnung neuer Imam-Schulen, trauen sich aber nicht auch ihre Meinung darüber zu schreiben. Wenn man wie meine Eltern, diese Nachrichten liest, wird man langsam depressiv, weil man nichts dagegen tun kann.
Was hältst du insgesamt von der politischen Situation in der Türkei? Welche Änderungen würdest du dir wünschen?
Jetzt ist die politische Lage in der Türkei sehr, sehr schwierig. Es wird immer schlechter und ein Krieg ist nicht auszuschließen. Es gibt sehr viele Probleme, die man bewältigen muss, wie der Kurdenkonflikt, fehlende Menschenrechte wie Meinungs- und Medienfreiheit sowie auch die Korruption im Umkreis von Erdogan. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob es eine Möglichkeit gibt, das jetzt zu ändern. Die nächsten Wahlen bleiben eine Hoffnung, und vielleicht ein Wunder.
Wie beurteilst du den Türkei-Deal der EU?
Ich finde es vonseiten der EU-Ländern moralisch verwerflich. Die Menschenrechte werden in der Türkei nicht mehr respektiert und geschützt. Wenn man die Augen zumacht und das Geld Erdogan gibt um die Flüchtlinge loszuwerden, dann finde ich das schon schlecht. Wenn wir über die EU reden, reden wir über Menschenrechte – Flüchtlinge sollten daher nicht benachteiligt werden. Ich weiß nicht, ob man wirklich glaubt, dass den Flüchtlingen während dieser Situation das Geld aus der EU für die Türkei zugutekommt. Es ist mit der Situation vor dem Zweiten Weltkrieg vergleichbar, alle wussten, was Hitler in Deutschland macht. Aber es wurde von den Nachbarländern solange ignoriert, bis es zu einem Punkt kam, wo sie zum Handeln gezwungen wurden. Natürlich schaut man in den Ländern zuerst auf die eigenen Probleme, bevor man irgendwelchen anderen Ländern hilft.
*Name wurde von der Redaktion geändert.
(Foto: by pixabay)