Menschen

“In den nächsten 15 Jahren wird diese Krankheit nicht heilbar sein.”

Die Plakate mit den Kondomen über Karotten, Mais und Kartoffeln oder die lustigen Figuren aus Kondomen, die ein wenig an Lachgummis erinnern: Das ist ein Teil der Kampagne „Gib AIDS keine Chance” von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Seit 1987 wird das Aids-Referat dort von Dr. Dr. Wolfgang Müller geleitet. Im Interview mit back view erzählt er, dass Aids noch lange nicht heilbar ist und dass das in der Öffentlichkeit auch wieder wahrgenommen werden muss.
[divide]

back view: Obwohl verschiedene Initiativen und Medien vor Aids warnen, wächst bei Jugendlichen die Unterschätzung der Krankheit. Wie nehmen Sie das wahr?
Dr. Wolfgang Müller: Hier handelt es sich teilweise um eine Fehlinterpretation, denn es gibt verschiedene Studien, die zeigen, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Die Zahl der Menschen, die mit Kondomen verhüten, ist in allen Altersgruppen so hoch wie nie. 90 Prozent der Schüler werden in der Schule in der Sexualpädagogik mit dem Thema Aids konfrontiert, was ebenfalls ein sehr hoher Wert ist. Das ist ein großer Erfolg und somit können wir sagen, dass die Wahrnehmung nicht stimmt.

Woran liegt diese Fehlinterpretation?
Jugendliche gehen mit dem Thema Aids anders um als es Erwachsene tun. Aids ist nur ein Thema unter vielen. Für Jugendliche stellt HIV meist keine konkrete Gefahr dar. Es ist eher eine Gefahr, mit der sie später mal umgehen müssen. Und sie haben darin Recht, denn es gibt in Deutschland nur eine geringe Anzahl infizierter Jugendlicher. Schwangerschafts-Verhütung hingegen hat einen sehr viel höheren Stellenwert bei Jugendlichen. Es ist ein Missverständnis, dass sie sich nicht dafür interessieren. Die rote Aids-Schleife ist Zeichen der Solidarität

Wie groß ist die Gefahr der Leichtsinnigkeit mit dem Thema? Man sieht im Fernsehen zum Beispiel immer wieder Berichte, dass vor allem im Rotlichtmilieu wieder Sex ohne Kondome verlangt wird.
Zunächst einmal habe ich ein Problem mit dem Wort Leichtsinnigkeit. Ich würde eher sagen, dass manche Menschen andere Prioritäten setzen. Wie bei den Jugendlichen ist auch bei den Erwachsenen der Anteil derer, die sich mit dem Kondom schützen, sehr hoch. Es werden in Deutschland so viele Kondome verkauft wie noch nie. Und dann gehen wir natürlich auch davon aus, dass diese verwendet werden. Dass es aber immer Gruppen gibt, die sich nicht schützen, auch im Rotlichtmilieu, kann nicht ausgeschlossen werden. Die 20 Prozent, die sich nicht schützen wollen oder die die Bedrohung nicht sehen, gibt es leider überall.

In Deutschland stieg die Zahl der Neuinfektionen zuletzt wieder an. Wie kann man der Entwicklung entgegen wirken?
Von 2001 bis 2007 stieg die Zahl der Neuinfektionen um rund vier bis fünf Prozent, aber in diesem Jahr hat sich die Zahl auf dem Niveau von 2007 eingependelt. Deutschland liegt damit in Westeuropa auf einem günstigen Stand. Es gibt nur ein einziges Land, das eine niedrigere Rate hat und das ist Andorra. Ich bin überzeugt, dass dies vor allem an der Prävention liegt, die eben durch Kampagnen wie „Gib Aids keine Chance” weiter vorangetrieben wird.

Da sprechen Sie auch schon das nächste Thema an: Die Kampagne „Gib Aids keine Chance”. Was konkret macht die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und was umfasst die Kampagne?
Die Arbeit der Bundeszentrale umfasst mehr als die Kampagne. Die Kampagne wiederum ist sehr weitreichend. Wir haben zunächst einmal unsere Plakate mit einer sehr hohen Reichweite und einem hohen Bekanntheitsfaktor. Dann schalten wir Spots im Fernsehen und im Kino. Wir unterstützen Lehrer bei der Vorbereitung zum Sexualunterricht und haben ein umfassendes Informationsangebot im Internet.

40 Prozent der staatlichen Gelder gehen an die Deutsche AIDS-Hilfe. Man versucht, Betroffene gezielt anzusprechen und den Staat nicht als einzigen Ansprechpartner zu zeigen. Es wäre schwer, wenn wir als staatliche Organisation Menschen glaubwürdig Prävention anbieten wollen, wenn diese sich vielleicht vom Staat im Stich gelassen fühlen. Daher gelingt die Zusammenarbeit mit der nicht-staatlichen AIDS-Hilfe, weil sie eben einen eigenen Weg gehen kann. Mit dieser Kooperation arbeiten wir international vorbildlich. Es ist einfach wichtig, dass wir jede Zielgruppe ansprechen und das muss auf unterschiedlichen Wegen geschehen.

Mit welchem Ziel wurde die Kampagne „Gib Aids Keine Chance” initiiert und wie kam es dazu?
Wir haben zwei große Ziele, die wir mit der Kampagne verfolgen. Das ist zum einen, dass die Zahl der Neuinfektionen so gering wie möglich gehalten wird. Zum anderen wollen wir eine Veränderung des gesellschaftlichen Klimas erreichen. Wir wollen HIV-Infizierte und Aidskranke in die Gesellschaft integrieren und ihnen ein nicht diskriminiertes Leben im Alltag ermöglichen. Diese beiden Punkte gehören bei der Prävention zusammen.

Mit dieser wurde 1985 begonnen, zwei Jahre später startete “Gib Aids keine Chance”. Die Bundesregierung unter der damaligen Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit, Rita Süßmuth, hat viel Geld für uns locker gemacht, um einer befürchteten Entwicklung entgegenzuwirken. Dies ist auch gelungen, denn sonst würde es in Deutschland jetzt vielleicht wie in Südeuropa aussehen, wo die Zahl der Infizierten höher ist als hier bei uns.

Noch sind vor allem Männer betroffen. Ist ein Wandel erkennbar?
Nein, einen Wandel gibt es nicht. Eher im Gegenteil. Die Zahl der infizierten Männer steigt und der Anteil der Frauen sinkt. Derzeit sind etwa 15 Prozent der Infizierten weiblich, das ist sehr niedrig. Man muss auch beachten, dass etwa zwei Drittel der Neuansteckung bei homosexuellen Männern passiert. Dazu kommt dann noch ein Anteil an heterosexuellen Männern und Immigranten.

Was sind die größten Vorurteile gegenüber AIDS und HIV in Deutschland?
Es gibt immer noch diese „Aids geht mich nichts an”-Einstellung, weil sich viele sagen, dass sie ja nicht homosexuell sind und in einer intakten Beziehung leben. Man schützt sich nur, wenn man einen Grund dazu hat. Wenn ich keine Angst vor einer Ansteckung habe, benutze ich auch kein Kondom, weil ich davon ausgehe, dass ich keins benutzen muss. Und gegen diese Einstellung müssen wir ankämpfen. Ein anderes Problem haben wir wiederum mit den bereits Infizierten. Es gab zuletzt immer wieder Patienten, die denken, dass sie nicht mehr ansteckend sind, weil sie Medikamente zu sich nehmen, die die Virenlast im Körper niedrig halten. Das hat aber oft wenig mit der Realität zu tun. Dies muss vor allem aber ein Thema für Ärzte bei ihren Patienten sein.

Durch eine aufwendige Stammzellbehandlung gelang es nun den ersten Ärzten HIV zu bekämpfen. Viele Infizierte schöpfen Hoffnung. Ist diese berechtigt?
Nein, die Hoffnung ist nicht berechtigt, vor allem nicht bei diesem Fall. Die Ärzte haben das ja auch sofort gesagt, aber das wird von den Medien natürlich ungern wahrgenommen. Es war eine Krebsbehandlung und keine HIV-Behandlung, und das Eliminieren der HI-Viren war nur ein Nebeneffekt. Aber das Todesfallrisiko bei dieser Behandlung ist viel zu groß, als dass man sie bei HIV-Patienten anwenden könnte.

Besteht die Gefahr, dass Deutsche jetzt noch weniger aufpassen und leichtsinniger werden, wenn in der BILD zu lesen ist, dass Aids nun heilbar ist?
In der Tat, in einzelnen Berichten wurde das von den Medien sehr schnell hochgejubelt. Es liest sich eben besser, wenn da steht „Aids heilbar” anstatt „Aids weiterhin tödlich”, denn das wissen die Menschen bereits. Aber HIV ist weiterhin eine potentiell tödliche Krankheit.

Natürlich haben wir mit dieser Berichterstattung ein großes Problem, denn sie beschädigt die aufwendige Aufklärungsarbeit. Wenn die Gefahr von Aids und HIV nicht mehr wahrgenommen wird, mindert das den Willen sich zu schützen. Wie bereits gesagt muss ich mich nur vor einer für mich spürbaren drohenden Gefahr schützen. Die würde aber wegfallen, wenn die Krankheit heilbar wäre. Aber dass Aids heilbar ist, ist leider nicht wahr. Die Berichterstattung war boulevard-gemäß und findet eben auf diese Art Aufmerksamkeit, aber es ist einfach nur falsch.

Wenn nicht mit dieser Methode, so gibt doch auch andere Ansätze. Auf welchem Stand ist die Forschung heute? Können sich Infizierte Hoffnungen machen?
Ich würde gerne ja sagen, aber ich muss nein sagen. Derzeit und auch in den nächsten, 10 oder 15 Jahren  wird diese Krankheit aus meiner Sicht nicht heilbar sein. Ich denke auch nicht, dass es in den nächsten 20 Jahren eine breit verfügbare und wirksame Schutzimpfung gibt. Zwar arbeiten Forscher daran, aber Studien mussten kürzlich abgebrochen werden, weil man genau das Gegenteil von dem erreichte, was man wollte. Die Geimpften waren eher anfälliger.

Wir sind noch weit entfernt von einem Erfolg und diese Realität muss man der Öffentlichkeit vermitteln. Es gibt theoretische Überlegungen, aber bis diese in die Praxis umgesetzt werden können und getestet werden, vergehen mehr als 15 Jahre. Das einzige, was wir derzeit können, ist eine Medikamenten-Therapie anzubieten, damit Infizierte besser und länger leben können. Aber wir sollten nicht vergessen, dass diese Medikamente schwerste Nebenwirkungen mit sich bringen.

Wie sehen die Lebenserwartungen von HIV-Infizierten heute aus?
Man kann mit HIV über Jahrzehnte leben bis es zum Ausbruch der Krankheit kommt. Aber das ist intensive Arbeit mit einem harten Zeitplan, viel Medizin und ganz nebenbei kostet diese Therapie auch viel Geld. So wurde es aber immerhin geschafft, die Lebenserwartung auf mehrere Jahrzehnte auszudehnen. Es gibt trotzdem Leute, auch in Deutschland, die keinen Zugang zu diesen Erfolgen haben, weil sie Medikamente nicht vertragen oder resistent dagegen sind, weil man die Krankheit zu spät diagnostiziert hat. Es ist nach wie vor so, dass HIV-Infizierte eine geringere Lebenserwartung haben, sie sterben früher. In Deutschland gibt es immer noch 600 bis 700 Menschen jährlich, die an den Folgen von Aids sterben.

Wie ist das Leben als HIV-Infizierter oder Aidskranker?
Viele Patienten bekommen das Leben mit dem Virus ganz gut in den Griff. Sie führen ein scheinbar normales Leben und nehmen die Krankheit und auch die Nebenwirkungen nicht mehr als permanente Belastung wahr. Sie versuchen die Nebenwirkungen in ihr Leben zu integrieren und nicht mehr allzu viel über ihre Krankheit nachzudenken. Trotzdem müssen sie mit starken Medikamenten leben, müssen viele Veränderungen durchleben und unterliegen einer ständigen Kontrolle des Arztes.

Es gibt immer wieder das Gerücht, dass man den Krankheitsverlauf durch Ernährung und Fitness beeinflussen kann. Was sagen Sie als Experte dazu?
Es gibt Studien, die beweisen, dass eine gesunde Lebensweise das Immunsystem stärkt und die Behandlung erleichtert. Deshalb wird dieser Lebensstil mit Sport, der kein Leistungssport ist, gesunder Ernährung usw. auch in Therapien angewendet. Es ist allerdings ein gefährlicher Irrglaube, dass man sich durch einen gesunden Lebensstil vor HIV schützen kann und sich nicht anstecken kann, wenn man gesund und sportlich lebt. Es sind die Kondome, die schützen und nicht das starke Immunsystem. Aber am besten schützt man sich mit beidem, Kondom und starkem Immunsystem.

Vielen Dank für das Interview, Dr. Wolfgang Müller!

(Text: Miriam Keilbach)

Miriam K.

Miriam war 2007 im Gründungsteam von backview.eu. Sie volontierte beim Weser-Kurier in Bremen und arbeitet seit 2012 als Redakteurin bei der Frankfurter Rundschau. Ihre Themen: Menschen, Gesellschaft, Soziales, Skandinavien und Sport.

Schreibe einen Kommentar