“Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe, und meine Zunge klebt mir am Gaumen, und du legst mich in des Todes Staub.” Die Worte des 22. Psalms klingen aktueller denn je – nach Burn-Out, Sinnkrise und Depression. Gebetet wurden sie durch die Jahrhunderte von Juden und Christen – auch aus Jesu Mund sind sie überliefert. Sinnsuche versus Sinnlosigkeit – ein ewiges Spiel auch in der Religionsgeschichte?


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Ganz so einfach ist es nicht. Die Frage nach Sinn ist neuer, als man denkt – auch für die Religion des Abendlandes. Um von der Sinnsuche zu sprechen, bedarf es eines Blicks in die jüngere Philosophie-Geschichte. Erst durch die Aufklärung begann das relativ einheitliche Weltbild des Mittelalters zu bröckeln. Der Philosoph Arthur Schopenhauer beschreibt provokant das Leiden als wahres Glück. Alle Definitionen, die Schopenhauer über den Sinn macht, machen den Umweg über das Gegenteil. Schon Immanuel Kant hatte zuvor die populären Gottesbeweise widerlegt, das optimistische Gottesbild des Christentums aber mit einigen philosophischen Neuerungen beibehalten.

Den wohl kräftigsten Stoß hat Gott als Sinnstifter ein Philosoph im späten 19. Jahrhundert gegeben: Friedrich Nietzsche. Er beschreibt seine Vorstellung von einem neuen Weltbild zum Beispiel im Aphorismus „der tolle Mensch”:
„Wohin bewegen wir uns?
Fort von allen Sonnen?
Stürzen wir nicht fortwährend?
Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten?
Gibt es noch ein Oben und ein Unten?
Irren wir nicht durch ein unendliches Nichts?”
Hier ist die Sinnfrage das erste Mal in aller Klarheit gestellt: Keine Leitsterne, ein unendliches Nichts und schließlich auch das  berühmte Nietzsche-Zitat aus diesem Aphorismus: „Gott ist tot”. Die Erfüllung des Lebenssinns gibt es nicht mehr im Gehorsam gegenüber einer höheren Macht, sondern in dem man auf der Erde zum „Übermenschen” wird und den Nihilismus überwindet.

Die Reaktion der Theologie des 20. Jahrhunderts
Die provokanten Thesen Nietzsches brachten auch einige Theologen dazu, sich zur Sinnfrage zu äußern. Durch die beiden Weltkriege wurde der Eindruck, dass nichts mehr heilig ist, noch verstärkt. Erstmals beginnen auch Theologen das Wort „Sinn” zu benutzen.
Der Theologe Paul Tillich beispielsweise entwickelte eine Kultur-Theorie, die mit einzelnen Symbolen und deren Bedeutung (Sinn) arbeitet. So können viele Dinge für den Menschen zur letzten Instanz werden, zum Beispiel Familie oder Geld. Aus christlicher Sicht geht es darum, hinter der Sinnsuche der Menschen ihr Verlangen nach Gott als einziger, wirklicher letzter Instanz zu suchen. Doch dazu muss erst die komplette Sinnlosigkeit alles Anderen erkannt werden, um schließlich von dort aus das Lebens bejahen zu können.
In seinem Buch „Krummes Holz – aufrechter Gang. Zur Frage nach dem Sinn des Lebens” knüpfte der Theologie Helmut Gollwitzer an Paul Tillich an, legte jedoch mehr Wert auf einen konkreten, persönlichen Gott. Die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens ist nicht einfach nur Gott, sondern die Zumutung, dass selbst Gott diese Frage nicht beantwortet.

Und was war vorher?
Wenn man sich vor der Moderne noch nicht mit dem Sinn des Lebens im philosophischen Sinne beschäftigt hat, heißt das aber nicht, dass man sich nicht auch im weiteren Sinne mit der Frage nach dem Leben beschäftigt hat. Die emotionalen Lieder der Psalmen, die Weisheit des „Predigers” oder die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes im Buch Hiob – sie zeigen, dass auch zur Zeit des Alten Testaments über die eigene Existenz tiefgreifend nachgedacht wurde. Dennoch blieben zumindest die Rollen klar verteilt: Gott war zwar vielleicht manchmal willkürlich, aber er blieb der Schöpfer der Welt und des Menschen – derjenige, der das Monopol auf den Sinn des Lebens hatte, wenn man schon davon sprechen will. Der Sinn des Lebens ist im Alten Testament vor allem die richtige Lebensführung, außerdem spielt die Heilsgeschichte des gesamten Volkes eine größere Rolle als das Glück des einzelnen Menschen.
Bei den frühen Christen wird Jesus Christus zum Mittelpunkt erklärt – der „Sinn des Lebens” wird zur Person und das Wunder der Auferstehung zum zentralen Inhalt des Nachdenkens. Das Ende der Welt sah man kurz bevorstehen, in kleinen Gemeinschaften bereitete man sich darauf vor. Selbst Verfolgung konnte die Christen nicht abschrecken, alles war auf die kommende Welt ausgerichtet.

Im Laufe der Jahrhunderte wird dieses Christentum zur politischen Größe und die sich etablierende Kirche übernahm die Funktion eines Sinnstifters – bis ins Mittelalter. Daran änderte sich auch durch die Reformation nicht viel: Martin Luther kritisierte die bisherige Praxis der Kirche und setzte stattdessen auf Predigt und Bibelauslegung, was faktisch die Deutungshoheit weiterhin auf Seiten der Kirche ließ. Auch Luther fragte sich bei seinem legendären Krisenerlebnis nicht, ob es einen Sinn des Lebens gibt, sondern, ob Gott mit ihm zufrieden war.

Gott und der Sinn des Lebens – eine junge Freundschaft
Dass heute in vielen Predigten, Bibelauslegungen und in den Medien so oft vom Sinn des Lebens im Zusammenhang mit Gott gesprochen wird, hat seine Ursprünge also in dem relativ neuen philosophischen Gedanken, dass es vielleicht gar keine transzendente Macht gibt. Längst verwenden die Kirchen sogar häufiger als ihre traditionellen großen Schlagwörter wie Sünde, Vergebung oder Erlösung den Begriff des Sinns. Kritiker könnten sagen, dass die Kirche hier etwas predigt, was in ihrer Tradition gar nicht enthalten ist. Doch gerade die Diskussion der Frage nach dem Sinn des Lebens macht den Charakter des Glaubens in einer säkularisierten Gesellschaft aus: Statt einer Kirche, die den Sinn des Lebens einfach nur „gefunden” hat und großzügig verteilt, macht sich die moderne Theologie gemeinsam mit Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche auf die Suche nach diesem.

(Text: Sebastian Helwig)

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