Osten

Graustufenbild

 jerusalem 4Mea Shearim ist eines der ältesten Stadtviertel Jerusalems außerhalb der Altstadtmauern. Es wird nahezu nur von ultraorthodoxen Juden bewohnt. Wegen ihrer Überzeugung, lehnen die strenggläubigen Bewohner Touristengruppen in ihrem Viertel ab.

 

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Oben, über den Dächern, färbt sich der Himmel in ein zartes Rosa. Unten, auf der Straße, nichts anderes als grau. Mal mehr, mal weniger. Graue Häuser im Wechsel mit grauen Wänden. Die einzigen Farben, die man sieht, sind die der Flugblätter und Plakate. Vom Wind getragen, wehen sie durch die beinah menschenleeren Straßen. Es scheint, als wäre die Zeit hier stehen geblieben. In den Häusern, in den kleinen Gassen und auf den Fußwegen. Zurück in die Zeit der osteuropäischen Schtetl des 19. Jahrhunderts. Zurück in die jüdischen Ghettos Polens, der Ukraine und Weißrusslands. Es ist Freitagabend kurz vor Sonnenuntergang in Mea Shearim. Beginn des Sabbats.

jerusalem 2Mea Shearim, Jerusalem. Das ist geballtes Leben. Entworfen im Jahr 1874 vom deutschen Architekten Konrad Schick, bietet das Viertel außerhalb der Altstadtmauer vielen Bewohnern Unterkunft auf engstem Raum. Auf wenig Fläche reihen sich schmale, mehrstöckige Häuser wie kleine Festungen zusammen. Eisentore und schwere Gitter vor Eingängen und Balkonen prägen das Bild des Viertels. Der Name des Viertels, auf hebräisch bedeutet er Hundertfach, geht zurück auf einen biblischen Ursprung. „Und Isaak säte in dem Land und erntete desselben Jahres hundertfältig.” Bereits ein Jahr nach Planung waren die ersten Wohnungen gebaut. Hauptsächlich Juden aus Osteuropa ließen sich in ihnen nieder. „Das hier ist eine Welt für sich, anders als alles andere in Jerusalem,” erzählt Tarid Jasin. Der 37-Jährige ist einer von wenigen nicht jüdisch-Gläubigen im Viertel. Seit sieben Jahren arbeitet er für ein Taxi-Unternehmen und fährt Touristen durch die Stadt.

Während in den Anfangstagen unter den Anwohnern auch nicht-religiöse Juden waren, sind es heute beinahe ausschließlich ultraorthodoxe Juden, die dort heimisch sind. Die Haredim (Ultra- Orthodoxen Juden) prägten den Inbegriff eines fundamentalistischen Judentums in Mea Shearim. Das Leben richtet sich streng nach den Regeln aus Tora und Talmud. Die insgesamt 613 Gebote und Verbote so streng wie möglich einzuhalten, ist Lebensaufgabe der Frommen. Darin sind beispielsweise auch eine Kleiderordnung für Männer und Frauen sowie die Einhaltung des Sabbats festgeschrieben.

Vor allem der Sabbat, der jüdische Ruhetag, wird von der Gemeinde streng eingefordert. Er dauert vom Sonnenuntergang am Freitag bis zum Eintritt der Dunkelheit am folgenden Samstagabend und verbietet die Tätigkeiten, die in der Tora als Arbeit definiert werden. Ebenfalls gilt an diesem Ruhetag ein Feuer- sowie Elektrizitätsverbot. Daraus ergibt sich etwa ein Verbot von Lichtschaltern, Fahrstühlen, Radios, Fernsehern und Autos am Sabbat. Besuchern wird empfohlen, das Viertel am Sabbat zu meiden. Die Einwohner sehen die große Gruppen von Touristen als besonders respektlos an und die Übergriffe häufen sich zunehmend.

jerusalem 3Die von allen Bewohnern getragene schwarze Einheitskluft soll an die Kleidung erinnern, die im 19. Jahrhundert in Europa üblich war. Sie drückt die Verachtung für jede Form von persönlicher Eigenart aus.

Jüdische Männer in knöchellangen, schwarzen Mänteln hasten eilig durch die Straßen. Unter den Mänteln tragen sie den gestreiften Kaftan, feine schwarze Strümpfe und Schuhe. Außerdem einen schwarzen, breitkrempigen Hut oder auch den Streimel, die typische Pelzmütze aus Fuchsfell. Darunter ragen, entweder zu Schnecken hinter die Ohren gewickelt oder auf die Schultern fallend, die typischen Schläfenlocken der Gläubigen heraus. Dieser Brauch ist auf den Satz „Ihr sollt den Rand eures Hauptes nicht runden, und du sollst nicht zerstören den Rand deines Kinnbarts” in der Tora zurückzuführen. Das Haar bleibt ungeschoren, um sich von den Heiden zu unterscheiden, die besonderen Wert auf gepflegtes Äußeres legten.

Die Strenggläubigen tragen meist einen Talit um den Hals, den weißen Gebetsschal mit Fransen, wenn sie täglich mehrmals zur Synagoge gehen. Am Sabbat oder anderen besonderen Festtagen kleiden sie sich in ein weißes Gewand und weiße Strümpfe. Die Frauen tragen schmucklose, klassische Kleidung. Ihre Häupter sind oft kahl geschoren. Sind sie auf der Straße unterwegs, tragen sie jedoch eine Perücke und darüber meistens noch ein Kopftuch, um diese zu verdecken.

Die Bewohner von Mea Shearim sind arm. Diejenigen, die nicht das Glück haben, einen kleinen Laden ihr Eigen nennen zu dürfen, leben von staatlicher Unterstützung. Wegen des wenigen zur Verfügung stehenden Geldes, leben Familien mit bis zu acht Kindern häufig in sehr kleinen Wohnungen mit weniger als zwei Räumen. Wie ein großer Flickenteppich wirken die Häuser von draußen aus betrachtet. Alles ist improvisiert. Irgendwie passend gemacht. Selten fallen Sonnenstrahlen durch das Geflecht aus Strom- und Wasserleitungen. Überall duftet es nach Kaminholz und frisch gebackenen Challa, dem Weißbrot, mit dem der jüdische Sabbat begangen wird.

Die Bewohner sind sich ihrer, für neugierige Touristen exotisch wirkenden, Lebensart bewusst. Akzeptieren wollen sie die Besucher aber nicht. Der größte Dorn im Auge der Haredim sind dabei die Reisegruppen, die durch das Viertel ziehejerusalem 5n, um sich ein Bild von den ärmlichen Umständen zu machen. Lautstark und ohne Rücksicht auf die Bräuche ziehen diese Gruppen durch Straßen und Hinterhöfe. An sie richten sich die roten Buchstaben auf weißem Untergrund der Schilder zu Beginn des Viertels. Auf Hebräisch und Englisch wird darauf hingewiesen, dass dieses Viertel kein touristisches Ziel ist. Die Touristen sollen sich anständig benehmen und keine freie Haut zeigen. Wer diese Hinweise nicht beachtet, wird von den Orthodoxen als feindlicher Eindringling angesehen. Aus den Medien sind Fälle von wüsten Beschimpfungen gegenüber Frauen in kurzen Röcken bekannt. Die Ablehnung gegenüber freizügiger Kleidung geht soweit, dass Besucher, die in kurzen Hosen bekleidet durch das Viertel gingen, angespuckt wurden. „Ich rate Jedem davon ab, am Sabbat hier her zu fahren.” sagt Tarid Jasin, der mit seinem Taxi das Viertel an diesem Tag ebenfalls meidet. Er kennt die Erzählungen seiner Kollegen von Steinwürfen gegen fahrende Autos am Sabbat und möchte es nicht drauf ankommen lassen.

Die Bewohner von Mea Shearim zieht es am Freitagabend zum Synagogengottesdienst und später zum geselligen Treffen zu ihren Familien. Überall erklingen gesungene Psalme. Festliches Essen wird am Familientisch serviert. Kerzenlicht erleuchtet die Räume. Ein Familienvater tritt vor seine Familie, segnet seine Kinder und spricht den traditionellen Friedensgruß; – Shalom, Frieden. Die Dunkelheit der Nacht legt sich über das Viertel. Sie bringt Ruhe in Straßen und Häuser.

(Text und Fotos: Benjamin Eichler)

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