Das ist der letzte Teil des russischen Sommers. Miriam will erklären, was sie in Russland sucht, ob sie es gefunden hat, warum sie immer wieder zurückkehrt, was Russland ist und, warum sie inzwischen schon den russischen Winter erlebt hat. Im letzten Teil: erneute Erklärungsversuche. Oder auch doch nur eine hoffnungslose Liebeserklärung. [divide]
Die meisten Heimkehrer fühlen sich müde, überfordert und verloren. Und dann nerven Familie und Freunde mit dieser einen Frage: Wie war es?
Wie war Russland?
Selbst heute weiß ich nicht, wie ich diese Frage richtig beantworten soll. Will ich auch gar nicht. Ich rede mit Leuten, die nie dort waren, nicht gerne über Russland. Die denken, dass Russland nur Wodka, Müll und kaputte Straßen ist. Ich kann ihnen diese Vorurteile ja nicht mal richtig austreiben, denn sie stimmen ja alle ein bisschen.Doch, dass das gar nicht wichtig ist und, dass da noch viel mehr ist, dass kann man im Westen meistens gar nicht verstehen.
Russland ist echt und ehrlich. Die Russen lächeln nicht, wenn sie dich nicht kennen. Das ist nicht so, weil sie unfreundlich sind, sondern weil sie ehrlich sind. Sie sehen darin keinen Grund jemanden anzulächeln, den sie nicht kennen.
Es ist keine Unfreundlichkeit, es ist ihre Mentalität. Wenn sie dich dann aber kennen und mögen, sind Russen die freundlichsten, herzlichsten, emotionalsten und wärmsten Menschen auf der Welt. Dass Russen grimmig und unfreundlich seien, ist ein pures Vorurteil gegründet auf reinen Äußerlichkeiten, ohne dass man die Menschen wirklich kennt.
Und der steht in diesem Land einfach im Zentrum. Russen sind solidarisch und hilfsbereit. Sie teilen immer alles mit jedem. Meine Gastmutter lädt meinen russischen Freund gleich am ersten Tag zum Essen ein und sagt jeden Tag, dass ich ihn heute gerne wieder zum Essen mitbringen soll. Am letzten Morgen sagt sie, dass ich sie einfach anrufen soll, wenn ich wieder komme und ach ja, meinen Freund soll ich natürlich auch mitbringen.Die Menschen sind hier anders, die Gesellschaft ist anders. Die Menschen leben hier zusammen, helfen sich gegenseitig. Sie arbeiten viel, zehn bis zwölf Stunden am Tag, sechs Tage die Woche. Sie sind trotzdem glücklich.
Die Menschen sind die Antwort, warum ich nach Russland gehe und, was ich hier mache. Ihre Herzlichkeit, ihre Selbstlosigkeit, ihre Gastfreundschaft. Ich fühle mich hier zu Hause, viel mehr zu Hause als ich es in meiner Heimat je tat. Fjodor Tjuttschew sagte einmal, dass Russland nicht mit dem Verstand zu verstehen sei. Und genauer könnte das man nicht sagen, denn Russland ist nur mit dem Herzen zu begreifen.Ich glaube, dass wenn man das erste mal hier war, man Russland entweder hasst oder liebt. Entweder oder, Russland ist intensiv und stürmisch, es gibt keine Zwischenstufe. Und wer Russland liebt, der kommt wieder und wieder und wieder.
Russland lässt dich nicht los.
Die Liebe zu Russland ist stürmisch, intensiv, leidenschaftlich und kompliziert. Das Land hat viele Probleme: Korruption, Armut in großen Teilen der Bevölkerung, so sehr dass alte Rentnerinnen bis nachts an der Metro stehen und Blumen verkaufen, die schlechte Infrastruktur in manchen Gebieten, Alkoholismus, eine fehlende Rechtsstaatlichkeit, eine korrupte und willkürliche Politik, ein politisches System, das in die Diktatur abzurutschen vermag.
Meine Liebe zu Russland ist bedingungslos, intensiv und sehr kompliziert. Ich sehe diese ganzen Probleme. Ich sehe aber noch viel mehr. Viel mehr als jeder Politiker, Journalist oder Mensch, der im Westen lebt und nie in Russland war, sieht, wenn er die Zeitung aufschlägt oder einen Bericht über Russland im Fernsehen schaut.
Die russische Rockband DDT besingt in ihrem Song „Rodina” (Heimat) Russland als spjaschtschaja krasawiza, als schlafende Schönheit. Und deshalb liebe ich dieses Land auch. Russland steckt im ständigen Wandel, erfindet sich immer neu. Russland ist nicht so oder so. Russland ist immer anders, immer vielfältig, immer unglaublich interessant. Denn hier herrscht kein Stillstand. Es wird sich etwas ändern. Ich liebe dieses Land und deshalb glaube ich fest daran, dass die schlafende Schönheit aufwachen wird.
Und auch ich komme wieder und wieder, denn Russland lässt mich nicht los. Nicht als Politikwissenschaftsstudentin, nicht als Journalistin und am wenigsten als Mensch. Gerade erst komme ich aus Wolgograd, dem Ort meiner ersten Russlandreise, und der nächste Flug Richtung Osten ist auch schon gebucht. Nach vier Wochen in Sankt Petersburg verbindet mich so einiges mehr mit diesem Land als ich je gedacht hätte.
Mehr von Miriam aus Russland?
Teil I: Was machst du bloß in Russland?
Teil II: Das Venedig des Nordens
Teil III: Willst du mit mir spazieren gehen?
(Text: Miriam Gräf)