Viele Menschen sagen „Auf Wiedersehen“, wenn sie sich verabschieden, und freuen sich auf die nächste Begegnung. Doch manchmal sieht man sich nie wieder. Manchmal ist ein Abschied endgültig.[divide]
Als mich die Nachricht erreichte, dass du sterben würdest, fühlte es sich an, als ob mir der Boden unter den Füßen weggerissen würde. Eine Stimme in meinem Kopf schrie ganz laut: „Nein! Ich kann dich unmöglich verlieren!“ Doch je länger ich darüber nachdachte, umso mehr wich die Fassungslosigkeit dem Gefühl von Verlassenheit. So leer, wie ich mich fühlte, so leer würde auch mein Leben ohne dich sein.
Auf der Fahrt zu dir konnte ich keinen klaren Gedanken fassen. Ich hatte so viele Fragen, aber keine Antworten. Wieso ist es so schwer, einen geliebten Menschen gehen zu lassen? Was passiert im Moment des Sterbens? Wie fühlt es sich an, dabei zu sein, wenn jemand stirbt? Und würde ich stark genug sein, dich auf deinem letzten Weg zu begleiten?
Als ich dich im Krankenhaus liegen sah mit den ganzen Schläuchen, in einer fremden Umgebung, aber gleichzeitig doch so vertraut, da wurde mir mit einem Mal klar, dass ich dich nicht allein lassen könnte.
Meine Unsicherheit war wie weggeblasen, alle Fragen, die ich mir vorher gestellt hatte, nicht mehr wichtig. Kein Mensch sollte seinen letzten Weg alleine gehen müssen. Es ging nicht mehr um mich, nur noch darum, die letzten Momente mit dir zu verbringen. Der Rest der Welt hatte aufgehört zu existieren.
Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren, als ich dir all das sagte, was ich dir noch sagen wollte. Als ich dir versprach, dass ich unsere gemeinsame Zeit immer in meinem Herzen tragen würde. Als ich mich bedankte für deine bedingungslose Liebe und Unterstützung. Als ich mich von dir verabschiedete und meine kleine Hand in deine große legte, wie du es so oft getan hattest. Es hätten Sekunden vergangen sein können oder Stunden: Zeit war nicht mehr wichtig.
Viele Menschen, die beim Tod eines Familienmitglieds dabei waren, beschreiben den Moment des Sterbens als etwas ganz Besonderes, als sehr friedlich und erfüllt. Sie haben Recht. Der Moment deines Abschieds war nicht traurig, sondern froh. Als dein Herz das letzte Mal schlug, warst du angekommen. Plötzlich wich die innere Leere, die ich den ganzen Tag gespürt hatte, einem Gefühl von Wärme. Es war ganz so, als wäre im Augenblick deines Todes ein Funke deines Lebenswillens, der dich gerade verlassen hatte, auf mich übergesprungen.
Als ich mich aus dem Zauber dieses Moments lösen konnte und dich ansah, wie du friedlich da lagst, fast schon mit einem verschmitzten Lächeln auf dem Gesicht, wusste ich, dass alles gut war. In diesem Augenblick hatte der Tod seine Bedrohlichkeit verloren.
Wieso haben wir eigentlich so viel Angst vor dem Tod anderer Menschen? Ich glaube, wir fürchten uns so sehr davor, weil er uns unsere eigene Vergänglichkeit vor Augen führt. Der Augenblick des Sterbens ist letztendlich der persönlichste Moment unseres Lebens. Persönlicher noch als die eigene Geburt, die Hochzeit oder andere einschneidende Ereignisse. Denn bei jedem dieser Ereignisse kann man schließlich über sein Leben sagen: „Ich habe noch genug Zeit. Ich habe die Chance, es besser zu machen.“
Der Tod zieht einen endgültigen Schlussstrich. Jeder einzelne Schritt, den man in seinem Leben gemacht hat, führt unweigerlich zu diesem einen Moment, in dem man nichts mehr ändern kann, in dem man die Sinnhaftigkeit seines Lebens nicht mehr selbst beeinflussen kann. Diese Endgültigkeit kann beängstigen.
Doch du hast mich teilhaben lassen an deinem persönlichsten Moment und mir damit das wertvollste Geschenk von allen gemacht. Der Zauber dieses Augenblicks verfliegt nicht. Noch immer füllt mich dieses warme Gefühl aus, wenn ich an den Moment deines Todes denke. Seitdem versuche ich, mein Leben bewusster zu leben, intensiver. Das gelingt nicht immer. Aber wenn ich mich über eigentlich Unwichtiges aufrege, wenn mich der Alltagstrott fest im Griff hat, obwohl ich mir doch über die wirklich wichtigen Dinge im Leben Gedanken machen sollte, dann hilft es mir, an unseren Abschied zu denken, und schon erscheint vieles klarer.
Es war ein Abschied für immer. Du fehlst mir. Jeden Tag. Aber du hast mir ein Abschiedsgeschenk gemacht, das über deinen Tod hinausreicht.
(Text: Anja Menzel / Foto: Gloria van Doorn by jugendfotos.de)