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Eine Stunde später folgt die zweite. Wieder ziehe ich meine Jacke aus, muss den Gürtel ablegen, die Mütze abnehmen. Dieses Mal soll ich auch den Schal vom Hals wickeln und meine Füße freilegen. Das Kleingeld muss ich aus den Hosentaschen kramen, Kamera und Handy aus dem Rucksack fischen. Dann gehe ich. Es piept und ich muss zurück. Also noch einmal, wieder piept es. Ich werde abgetastet, kein Ergebnis, ich darf weiter.
Am Capitol wiederholen sich die Szenen, außerdem ist das Mitbringen von Essen und Trinken untersagt. Ein Rüpel in Uniform brüllt uns seine Regeln entgegen und schüchtert uns ein mit Drohungen wie „We´ll find everything”. Wir müssen an einem Müllcontainer vorbei, bereits halbvoll mit Broten, Keksen, Getränkeflaschen, Jogurtbechern und Obst. Anschließend zum Weißen Haus. Als ich nach einem Sicherheitscheck das Besucherzentrum betrete und nach einer Führung frage – die vor den Anschlägen von 9/11 problemlos möglich war – werde ich von der Dame am Schalter ausgelacht. Sie erklärt mir, dass ich mit der deutschen Botschaft Kontakt aufnehmen hätte müssen, ihr meinen Besuchswunsch offiziell hätte mitteilen müssen und die deutsche Botschaft dann für mich – vielleicht – eine Führung hätte organisieren können. Aber das ist nur sechs Monate im Voraus möglich, mindestens.
Meine nächste Station ist das Pentagon, genauer: das Pentagon Memorial. Die Bilder der brennenden Zwillingstürme in New York hat jeder noch im Kopf. Dass aber am selben Tag ein Flugzeug in das Verteidigungsministerium flog und das vierte der Terroristen-Flotte in Pennsylvania abstürzte, ist Vielen nur noch vage bewusst. Hier, wo ich jetzt stehe, krachte der American Airline Flug 77 um 9:37 Uhr in den Abschnitt eins des Pentagons. Hier starben 189 Menschen: 53 Passagiere, sechs Crewmitglieder, fünf Entführer und 125 Mitarbeiter des Pentagons. Heute ist nichts mehr von der Katastrophe zu sehen. Die Außenwände tragen keine Zeichen der Zerstörung. Nur das Memorial zeugt vom Ereignis, mit 184 undefinierbaren Steindingern. Erst zu Hause lese ich, dass es Bänke sein sollen. 184 Bänke für 189 Menschen, die hier starben. Nicht allen soll unsere Erinnerung gelten. Die fünf Entführer des Flugzeuges wurden ausgeklammert, sie sind unerwünscht.
Vielleicht verstehe ich auch deshalb die Symbolik nicht. All die abweisenden „Bänke”, streng chronologisch nach den Geburtsjahren der Verstorbenen geordnet, darunter kleine Wasserbassins und dazwischen achtzig Ahornbäume. Doch sie wurden gerade erst gepflanzt und sind noch mickrig. Dem Ort können sie kein schwergewichtiges Aussehen verleihen. Die verstreuten Bänke verlieren sich auf dem großen Areal. Jede Bank ein Toter. Schwer vorstellbar. Zu schwer.
Keine Überfahrt ohne Begutachtung
Über Philadelphia und fünf Sicherheitskontrollen nach New York, gleich zur Statue of Liberty. Doch bei der „Freiheit” ist nichts zu bemerken von Freiheit. Niemand darf nach Liberty Island übersetzen, der nicht eine Kontrolle hinter sich gebracht hat. Es ist schneidend kalt, trotzdem muss sich jeder vor dürftigen Heizstrahlern ausziehen: Mütze ab, Schal weg, Jacke aus, Handschuhe ebenso, Gürtel abschnallen, Hosentaschen leeren, Schuhe ausziehen, Rucksäcke durchleuchten und dann selbst durch den Detektor. Auf der Insel wartet die nächste Kontrolle. Wieder muss ich meine Winterausrüstung ausziehen und meine Hosentaschen leeren. Und dann werde ich unter einer Sprengstoff-Schnüffel-Maschine platziert. Von beiden Seiten blasen mich Winddüsen an. Hätte ich eine sensible Frisur, sie wäre jetzt zerstört.
Unfassbar, dieser Irrsinn. Noch unfassbarer: Meine Mitmenschen vollziehen die Prozedur mit einem geradezu heiligen Ernst, einer trägen Selbstverständlichkeit. Niemand fragt nach der Sinnigkeit. Niemanden interessiert, dass wir alle als mutmaßliche Terroristen abgestempelt werden, dass unsere Bewegungsfreiheit sinkt, dass wir Stunden in der Warteschlange verbringen. Niemand fragt nach der Angst, die geschürt wird.
Nachmittags stehe ich vor dem Krater, in dem einst das World Trade Center stand. Hier wird alles anders, alles. Gegenüber der viel zu großen Baugrube befindet sich das WTC Visitor Center. Es erinnert an den Tag, an dem die Zwillingstürme zum letzten Mal unverwüstlich schienen. Morgens um 8:46 Uhr begann das Unglaubliche: der American-Airlines-Flug AA 11 kollidierte mit dem Nordturm. Da die Entscheidungsträger zu diesem Zeitpunkt noch mit einem Unfall rechneten, wurden die Angestellten des Nachbarturms aufgefordert, Ruhe zu bewahren und an ihren Arbeitsplätzen zu bleiben. 17 Minuten später erwies sich diese Ansage als verheerend: Zielgenau explodierte die zweite Maschine im Südturm. Zwei Stunden danach standen beide nicht mehr. New York hatte fast 3000 Einwohner weniger. Schon vor sieben Jahren haben mich die Bilder aus dem Fernsehen mitgenommen. Doch jetzt stehe ich dort, wo alles geschah. Hier trennen mich kein Bildschirm und kein Ozean mehr. Hier kratzt der Anblick die Seele.
Auch die Ausstellung schont keinen Besucher. Die Wände hängen voll von Fotos mit lachenden Menschen. Bild an Bild, über- und untereinander. Junge Menschen, alte, dicke, dünne, hübsche, hässliche, sympathische und unsympathische, dunkelhäutige, Weiße, Asiaten, sommersprossig, tätowiert oder mit Schnauzbart, im Anzug oder mit Shorts, Menschen mit Kindern auf dem Arm, beim Sport, im Urlaub, bei der Arbeit. Menschen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Nur eines eint sie: sie alle verloren in den Türmen ihr Leben. Im nächsten Raum tapezieren Vermisstenanzeigen eine Wand. Gegenüber zerborstene Flugzeugfenster, zerfetzte Feuerwehrkleidung, Stahlteile, verbogene Löffel, eine Caférechnung, ein demoliertes Handy, eine zerrissene Sporttasche. Alles Dinge, die aus den Trümmern gezogen wurden. Unter ihnen ist auch ein Stoffschaf aus dem 78. Stock. Der einzige Überlebende dieser Etage. „How could you survive?”, steht auf einem Zettel neben ihm, „and all the others not?” Schutt und Asche. Eine Zerstörung, die ich mir nicht vorstellen kann. Die nicht wahr zu sein scheint. Eine Verwüstung. Zum ersten Mal verstehe ich, dass die US-Amerikaner von „Krieg” sprechen.
Neben den Fotos hängen Kinderzeichnungen, Mitleidsbekundungen aus aller Welt, Augenzeugenberichte und letzte Nachrichten von Menschen, die nicht entkommen konnten. Auch die Liebesbotschaft von Andy ist mit großen Buchstaben an die Wand geschrieben. Andy, der in einem der Flugzeuge saß und seine Frau anrief. Der ihr mitteilte, dass seine Maschine entführt wurde. Dass er das Beste hoffe, aber die Lage ernst sei. Dass er sie liebe und sie auf seinen Anruf hoffen und beten solle. Aber Andy rief nicht an, nie wieder. Kein Gebet nutzte. Ich stelle mir vor, ich sei die Frau, die nun zu Hause sitzt, hilflos, und das Telefon anstarrt. Die Minuten verrinnen und es klingelt nicht. Mit jeder Sekunde, die verstreicht, wird ein Anruf unwahrscheinlicher. Und sie verstreichen, die Sekunden. Gnadenlos. Weiter und weiter. Und er, der Geliebte, ruft nicht an. Eine Welt würde für mich einstürzen, größer und mächtiger, als es je ein Turm gewesen ist. Wie gut, dass in jedem Raum Kleenex-Packungen stehen. Meine Tränen sind in guter Gesellschaft.
Auf einer langen Pinnwand hängen Zettel mit den Eindrücken und Erinnerungen von Besuchern. Eine Hinterbliebene schrieb in sauberer Handschrift: „April 24 2008: 6 years, 8 month, 13 days, and tears are still shed. What now?” Ja, was jetzt? Für manche steht das Leben immer noch still. Niemand kann ersetzen, was sie verloren haben. „The loss will be more than any of us can bear”, so Bürgermeister Rudy Giuliani. Aber sie mussten es ertragen. Irgendwie. Und sie reagierten. Die Welt war anders als zuvor. Die Unbeschwertheit war vorbei. Sicherheit wurde zum Leitmotiv. Jetzt verstehe ich. Ich hätte genauso gehandelt.
Über die bleibenden Erinnerung
Einige lächelnd ertragene Sicherheitschecks später bin ich wieder auf dem Heimweg. Im Flieger sitzt ein Mann neben mir, Martin. Wir reden über New York. Und dann fragt er mich unvermittelt, ob ich auch „nine-eleven” gesehen hätte. Fragt es, und eine Geschichte bricht aus ihm heraus, seine Geschichte. Er erzählt von seinem Bürogebäude, das in der Nähe stand. Von seinem Arbeitsplatz, der im 38. Stock lag – mit Blick auf das World Trade Center. Berichtet, wie er sah, wie das zweite Flugzeug den Wolkenkratzer traf. Stammelt, wie er nach einer Stunde in sich zusammenfiel. Ihm fehlen die Worte, immer noch. Wo die Sprache versagt, reden seine Hände. Gestikulieren und versuchen, das Undenkbare auszudrücken. Selbst Jahre später ist er überwältigt. Kann nicht fassen, was er sah. Die Menschen, die aus den obersten Stockwerken sprangen. Die riesigen Türme, diese massive Festung, die sich in Schutt verwandelten.
Eine kurze Pause, dann verengen sich seine Augen. „I hate them” – er meint die Araber, ausnahmslos alle. Und Präsident Bush, den verehre er. Weil er auf die Terroristen Jagd mache. Am Liebsten würde er selbst alle umbringen. „Animals” nennt er sie, „Tiere”. Gerne würde ich zum Verständnis aufrufen. Aber wie käme ich dazu? Den Einsturz, den er sehen musste, kann ich mir nicht einmal vorstellen. Die Tonnen von Stahl, das Feuer, das Beben, die Erschütterungen, das Wissen um all die Menschen. Auch Martin kannte einen Kollegen, den er gerade im World Trade Center vermutete. Einen Kollegen, den er nie wieder sah.
Martin stellt die Frage nach dem Sinn. Nein, er stellt sie nicht, er schreit die Sinnlosigkeit heraus. So viele „Innocents” sterben zu lassen, so viele Unschuldige! So viele Jahre, aber der Hass, der Schrecken, die Unfassbarkeit stecken noch tief in ihm. Er erzählt von Albträumen, die ihm im ersten Jahr nach den Anschlägen fast jede Nacht heimsuchten. Immer noch kommen sie, nicht häufig, aber immer wieder. Kurz darauf schlummert er ein. Wer weiß, was er gerade sieht.
(Text und Fotos: Steffi Geihs)