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Experimenteller Film für ein experimentelles Seminar

Interpretieren, darauf sind viele Geisteswissenschaftler getrimmt. Dass eine Interpretation auch mittels eines neuen, eigenständigen Werkes funktioniert, durften Studenten in Frankfurt erleben. Im Seminar „Film|Minutes” kreierten sie ihre eigenen Vorträge zu Szenen des Films „Decasia” und durften zuletzt sogar Regisseur Bill Morrison kennen lernen.


Geisteswissenschaften studieren, das bedeutet meistens viel lesen, über Land und Kultur Bescheid wissen und, in den besten Fällen, den Lehrplan auch mit medienaffinen Veranstaltungen füllen. Für motivierte Amerikanistik-Studenten in Frankfurt bietet sich dieses Semester noch eine weitere Möglichkeit: experimentieren. Dabei stehen sie nicht im Labor oder erstellen Fallbeispiele am PC, sondern sind gefragt, ihre eigenen Ideen zu nutzen.Der experimentelle Film Decasia von Bill Morrison wurde für diesen Zweck von Seminarleiter Prof. Dr. Bernd Herzogenrath in einzelne Minuten aufgesplittet und unter den Studenten verteilt. Was man mit ‚seiner‘ Minute macht, bleibt völlig der Kreativität überlassen – und bringt überraschende Ergebnisse.

Das Seminar besteht aus vielen kleinen Einzelvorträgen der Studenten: Während im Hintergrund der Filmabschnitt mit der passenden experimentellen Musik abläuft, stehen die Studenten vor dem Screen und stellen dazu ihre eigene Interpretation der Minute vor. Dabei ist alles möglich, von beschreibenden Vorträgen über tagebuchähnliche Beobachtungen bis hin zur gruseligen Kurzgeschichte. Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. Auch selbst geschnittene Videos oder sogar Gesangseinlagen sind dabei. Am Ende werden die Beiträge gesammelt und allen online zugänglich gemacht – die Website befindet sich noch im Aufbau.

Interessant ist dabei vor allem die Verbindung des willkürlich zusammengeschnittenen Filmmaterials zu Geschichten und Gedichten, die, wie sich nach der Hälfte des Semesters schon heraus kristallisiert, irgendwie doch miteinander verbunden sind. Es herrscht ein unterschwelliger melancholischer, ja fast schon mystischer Ton, der mehr an Gothic oder Horrorgeschichten erinnert als an Disney Filme.

Im Seminar wird immer wieder der Einfluss der Musik auf das gerade Erzählte angesprochen – die reinen Filmszenen sind meist nicht so schockierend oder nicht so beängstigend wie die selbe Minute mit der dazugehörigen Musik. Was wie ein Weltuntergangsszenario anmutet, soll aber vor allem eine Chance für die Studenten sein, ein weit verbreitetes Medium eben nicht konventionell zu analysieren, sondern etwas Neues auszuprobieren – „thinking outside the box” nennt man das am Institut.

Faszinierend ist bei alledem, dass selbst in offenbar unzusammenhängenden Szenen immer wieder der Zusammenhang gesucht wird. Bei aller Kreativität fällt es doch meist schwer, die gezeigten Personen oder die Umgebung nicht mit in die Geschichte einzubauen. Und doch kommt ab und an ein Beitrag, der weit von dem Filmausschnitt abweicht und erst bei näherem Hinsehen – und Hinhören – plötzlich doch mit Decasia in Verbindung steht; eben eine echte Kreation.

Für all die Studenten, die sich dafür interessierten, wie ein Film zu Stande kommt, bot sich schließlich noch eine einmalige Gelegenheit: „Der Meister höchstpersönlich”, Bill Morrison, kam Ende Mai nach Frankfurt, um auf der Konferenz „Media Matter” über das Filmemachen zu sprechen. Denn was in der heutigen, digitalisierten Zeit gerne vergessen wird: Film besteht aus Materie und diese Materie beeinflusst den Film. Und genau darum geht es eben in Decasia: auch Film kann altern und verfallen. Auch scheinbar für die Ewigkeit aufgenommene Momente sind letztendlich nicht unsterblich.

(Text: Carolin Schmitt)

Carolin S.

Ich habe 2009 angefangen für back view zu schreiben, damals vor allem im Bereich *Sport*. Mittlerweile schreibe ich auch über andere Themen und versuche mein Studium der Anglistik und Amerikanistik auch ab und zu mit meinen Artikeln zu verknüpfen.

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