Europas Musikkrone geht an Ell und Nikki aus Aserbaidschan – mit einem Kitschsong sondergleichen konnten sie die Favoriten aus Irland hinter sich lassen. Das Duo verwies Italien und Schweden auf die Plätze – Lena landete auf dem zehnten Rang. Den spektakulärsten Auftritt hatte aber Stefan Raab.
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Die größte Überraschung des Abends gab es gleich zu Beginn der Show. Stefan Raab stimmte eine erfrischend neue Version des letztjährigen Siegertitels von Lena ein. Als Ein-Mann-Kapelle startend, steigerte er den Song zu einem berauschenden Akt. Gitarre, Gesang und spätestens am Schlagzeug zeigte er vollen Gestik- und Mimik-Einsatz. Währenddessen versammelten sich 43 Lena-Doubles mit allen Länderflaggen auf der Bühne. Aus ihrer Mitte stieg dann doch plötzlich die wahre Lena und sang zumindest ein paar Zeilen ihres Erstlingswerkes. Das Ende fand sich in einer spektakulären Feuerwerkshow und der Erkenntnis: Raab startete zwar außer Konkurrenz, zählte aber mit diesem Auftritt zu den besten des Abends.
130 Millionen Zuschauer, 35 000 frenetisch jubelnde Fans in der Halle in Düsseldorf und 25 auftretende Nationen feierten am Samstag ein Fest der europäischen Völkerverständigung. Dabei ging es um alles. Um den Eurovision Song Contest. Um die musikalische Würdigung einer monatelangen Vorbereitung auf diesen einen Auftritt. Schräge Typen, bunte und viel zu kurze Kleider. Am Ende setzte sich jedoch die Schlichtheit durch: Vier Tänzerinnen und ein schmachtendes Pärchen – alles in schlichtem Weiß gehalten.
Aserbaidschan siegte mit einem schnulzigen Titel, der kitschiger kaum hätte dargeboten werden können. Ein Liebessong, in den Ell und Nikki – das singende Pärchen – sämtliche Gefühle der Welt gesteckt hätten, wie sie bei der anschließenden Siegerkonferenz mehrmals betonten. Es war eine Herzensangelegenheit und “wir haben immer daran geglaubt”, sagen sie später. Beim Auftritt selbst hatte man irgendwie das Gefühl, dass es „too much” ist. Zu übertrieben dargestellte Zuneigung. Aber scheinbar hat Europa gerade danach gesucht. Die Melodie ist zwar eingängig, zu den typischen Ohrwürmern gehörte “Running Scared” aber nicht.
In der Generalprobe am Samstag stand noch die Ukraine mit 121 Punkten ganz oben auf dem Bewertungsbogen. Bei der Probe der Schaltungen in die 43 europäischen Länder wurden auch von überall hypothetische „twelve points” verteilt. Was als trockener Testlauf begann, endete in einem kleinen Highlight. Denn selbstverständlich musste der Siegertitel auch noch einmal dargeboten werden, um den Ablauf zu vervollständigen. Anke Engelke nahm sich dessen sofort an. Voller Elan und doch nur mir eher geringen Textkenntnissen trällerte sie die ukrainische Nummer. Um die fehlenden Zeilen zu überbrücken, sang sie einfach in Chinesisch und Japanisch weiter. Oder besser gesagt, in der Engelke-Version davon. Spaß hatte sie dabei allerdings.
Zurück zur eigentlichen Show. Der deutsche Beitrag – also Lena – kam durchaus überzeugend an. Das Publikum in der Halle tobte und war mitgerissen vom tiefen, mystischen Augenspiel von Lena. Eine kräftige Portion Erotik hatte sie auch noch ausgepackt. Gereicht hat es letztlich aber nicht: Platz zehn (107 Punkte) ist wohl gerade noch im Rahmen des Erträglichen für Raab und Lena. Auch der große Favorit Irland kam über einen achten Platz (119 Punkte) nicht hinaus. Trotz markant gestylten Haaren, die in Düsseldorf übrigens als Pappe zum Aufsetzen die Runde machten – und einem etwas wild wirkenden Auftritt.
Stattdessen waren die braven Nummern vorne. Denn hinter dem Sieger aus Aserbaidschan landete der Liebessong „Madness of Love” vom Italiener Raphael Gualazzi auf Rang zwei (189 Punkte). Zumindest ein im Vorfeld hochgehandelter Favorit konnte sich auf den dritten Platz schieben: Schweden mit dem eingängigen Titel „Popular” (185 Punkte).
Wie man die gesamte Halle ausnutzt und das Publikum richtig animiert, zeigte Jan Delay, der als Special Guest während des Votings auftrat. Er performte „Oh Johnny” und „Klar” und sprang fröhlich aufgedreht bis auf die zweite kleinere Bühne in mitten der Fans. Die waren ebenso verblüfft wie dankbar. Denn während der 25 vorangegangenen Auftritte wagte lediglich der dänische Sänger den eher vorsichtigen Weg nach vorne. Aber Jan Delay ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen – sich einem europäischen Millionenpublikum zu präsentieren.
Bei der anschließenden Pressekonferenz zeigten sich die Sieger fröhlich, ausgelassen, erleichtert und vor allem voller Liebe. Egal welcher Frage sie gegenüberstanden, es lief vor allem auf eines hinaus: „love”. Aber auch, dass Ell als erstes seine Mutter anrufen wird und der Siegertitel in unzähligen weiteren Sprachen veröffentlich werden soll – mindestens auf Französisch, Spanisch und Deutsch. Aus Dank an ihre Fans. Sorgen machen sich Ell und Nikki übrigens nicht, dass Aserbaidschan ein solches Event in der Zwei-Millionen-Hauptstadt Baku? nicht austragen könnte: „Wir laden euch alle herzlich ein, euch im nächsten Jahr vom Gegenteil zu überzeugen.”
(Text & Fotos: Konrad Welzel)