Als Kind träumt man von den Triumphen der ganz großen Sportler. Man kleidet und verhält sich wie die Sportidole und vergöttert ihre Erfolge. back view zeigt Euch hier in unregelmäßigen Abständen in der neuen Serie die Sportidole der Redaktion. Heute stellt Jerome Kirschbaum Roberto Baggio vor.
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Der italienische Fußball – das ist nicht nur Korruption und Catenaccio. Da war auch mal ein stürmender Lockenkopf mit Zöpfchen: Roberto Baggio. Der filigrane, eiskalte Goalgetter. Ein Idol wie in Stein gemeißelt, ein Held früherer Tage.
Es war ein Sommer Mitte der 90er – auf einem italienischen Wochenmarkt leuchtete es mir aus der Ferne zwischen Klamotten, Nippes und lebendigem Allerlei entgegen. Ein billig gefälschtes Trikot des AC Mailand. Ein Trikot von Roberto Baggio wohlgemerkt. Jener Baggio, der in einem solchen Trikot der Mailänder zwischen 1995 und 1997 immerhin 51 Spiele absolvierte.
Der Stern des Stürmers war bereits Jahre zuvor bei Juventus Turin aufgegangen. Keine Frage, Toreschießen, das war seine Bestimmung. Vor dem Tor eiskalt, aber kein stupider Vollstrecker. Baggio paarte die Eleganz eines Tänzers mit der Coolness eines Auftragskillers. Das perfekte Vorbild für einen laufenden Meter wie mich, der sich jedes Wochenende auf den Ascheplätzen rumtrieb.
Ruhm auf italienischem Bolzplatz – dank Baggio
Das Trikot Roberto Baggios, auf keinen Fall zu verwechseln mit Dino Baggio, konnte ich meinen Eltern schnell aus den Rippen leiern, die Liebe war ja bekannt. Stolz wie Oskar hüpfte ich frohen Mutes durch die italienischen Kleinstadtgassen. Als am Abend dann der Gang in die Pizzeria anstand, streifte ich mir das Jersey mit der Nummer 18 über.
Gottes Fügung schien es nicht anders gewollt zu haben – am selben Abend kickten keine 10 Meter vom Restaurant entfernt einheimische Kids auf einem staubigen Bolzplatz. Mit Händen und Füßen meldete ich mich zum Spielen an. Es entwickelte sich ein Turnier, in meinem Team schoss ich Tor um Tor – ohne Baggio wäre das nie möglich gewesen.
Als es vor einem Spiel um die Aufstellung ging, blickte ich in fragend in die Runde. Italienisch verstand ich nicht. Sie schubsten mich nach vorne und riefen nur „Attacante“. Geh in die Spitze und schieß Tore, wie Baggio eben. Ich hatte den Fußballthron erklommen, so viel Ruhm sollte mir in meinem weiteren Fußballerdasein nicht wieder zuteil werden.
Baggios unsägliches Zöpfchen
Die Liebe zum Idol ging dann so weit, dass ich mich auch optisch anpassen wollte. Die Lockenmähne war nicht zu erreichen, so viele Lockenwickler hat kein Friseur. Aber das unsägliche Zöpfchen, Baggios Markenzeichen, ließ ich mir immerhin wachsen.
Fotos von damals gleichen einem Mahnmal des schlechten Geschmacks. Was früher Mode war, sieht heute aus wie ein riesiger Treppenwitz. Doch Mitte der 90er war hässliche Mode ja ohnehin eine Volkskrankheit. Und ich war mit meinem Zöpfchen, bei sonst kurzen Haaren, dem großen Vorbild einen weiteren Schritt nähergekommen.
Tragischer Held im WM-Finale 1994
Nach und nach verblasste sein Stern am großen, sich stets rotierenden Fußballhimmel. Von Bologna über Mailand landete er 2000 in Brescia. Trotz einem fantastischen Wert von 45 Toren in 95 Spielen blieb Baggio sowohl bei der WM 2002 als auch der EM 2004 ohne Nationalmannschaftseinladung. Schon 1995 war er bei Juventus vom Hof gejagt worden, die Hoffnungen sollten auf Allessandro del Piero liegen, für mich blieb stets Baggio der Fixpunkt.
Der Weltfußballer des Jahres 1993 beendete 2004 seine aktive Karriere, nachdem er in 452 Spielen in der Serie A 205 Tore erzielt hatte. Ein Titel mit seiner Italienauswahl blieb ihm versagt, er verschoss auf dem Höhepunkt seiner Karriere im Finale gegen Brasilien 1994 den entscheidenden Elfmeter.
Heute ist Roberto Baggio Technischer Direktor bei Italiens Nationalmannschaft. Er sollte der marodierenden Squadra Azzura wieder auf die Beine helfen, doch für mich bleibt Italien ohne Baggio auf dem Feld eine Mannschaft non grata. Während das einstige Idol die Schuhe an den Nagel gehängt hat, schleppe ich mich in Freizeitligen herum. Der Ruhm von damals ist verflogen – auch das Zöpfchen ist nun weg.
(Text: Jerome Kirschbaum)