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Zwischen Kalkül und Anspruch

Seit Wochen wird über keinen anderen Politiker so viel geredet, wie über unseren Bundespräsidenten Christian Wulff. Während viele ihn nicht mehr ernst nehmen und die Funktion seines Amtes schon für obsolet halten, erinnern andere an die Geschichte und das Potential unseres Staatsoberhauptes. Vernachlässigt unsere Gesellschaft das etwa heute?


November 2009. Die Bundestagswahl ist gerade vorbei, die CDU wird stärkste Kraft und darf nun wieder mit ihrer geschätzten FDP koalieren. Um sich im Vorfeld von anderen Parteien abzuheben und, um keine große Koalition mehr eingehen zu müssen, spielt ein Gesetz eine besondere Rolle. Eine Regelung, die bis zum Spätherbst ständig in den Nachrichten erwähnt wurde: Das Zugangserschwerungsgesetz (ZugErschwG).

Befürworter sahen darin eine Schutzfunktion. Kinder- und Jugendpornographie sollte durch das Bundeskriminalamt im Zusammenhang mit den Internet-Providern blockiert werden, damit Pädophile keine Anlaufstelle mehr für ihr Treiben haben. Gegner verwiesen auf Artikel fünf des Grundgesetzes. Sie befürchteten weitere Einschränkungen im Internet und argumentierten, dass so das Problem des sexuellen Missbrauchs von Kindern nicht gelöst werde. Dennoch stimmte – noch der alte – Bundestag für das Gesetz. Dieses wurde dem Bundespräsidenten Horst Köhler zur Unterschrift vorgelegt.

Köhler, der in seiner vierten Berliner Rede erst im März zuvor die Bundesregierung ermahnte, Lösungen zu entwickeln, „die auch übermorgen noch tragfähig sind”, verweigerte seine Unterschrift und erbat sich „ergänzende Informationen”, bevor er seine Zustimmung zur Vorlage geben wolle. Später wurde der Entwurf dann umgesetzt, nur um dann von der neuen Regierung, vor allem durch das Bestreben der FDP, wieder gekippt zu werden.

Im Laufe der Geschichte der Bundesrepublik gab es mehrere solcher Fälle. Gesetze wurden von verschiedenen Bundespräsidenten nicht unterzeichnet, etwa, weil der Bundesrat seine Zustimmung noch nicht erteilt hatte oder das Staatsoberhaupt das Gesetz – wie im eben erwähnten Fall – für bedenklich oder nicht verfassungskonform hielt.

Der Bundespräsident ist außerdem ermächtigt, den Bundestag im Falle einer verlorenen Vertrauensfrage aufzulösen, was letztlich zur Wahl von Helmut Kohl 1982 und Angela Merkel 2005 führte. Noch nie hingegen kam es zur Ausrufung des Gesetzgebungsnotstandes. Sollte eine Vertrauensfrage scheitern und der Bundestag nicht aufgelöst werden, kann der Bundestag bei neuen dringlichen Gesetzen so umgangen werden, einzig der Bundesrat wird noch zum Gesetz befragt.
Dieser Punkt im deutschen Grundgesetz ist sicherlich aus den Erfahrungen zu den Notverordnungen des Reichspräsidenten Hindenburg entstanden – welcher in den Krisenjahren 1930 bis 33 auf diese Weise die Regierungsfähigkeit sicherstellte, obwohl KPD und NSDAP zusammen die absolute Mehrheit im Reichstag hielten.

Der Bundespräsident ist eine Gewalt, die sich von der Bundesregierung und den beiden Parlamenten abhebt. Eine Meldung, wonach „Merkel an Wulff festhält” (Die Welt) ist deswegen absolut irreführend, da sie fälschlicherweise suggeriert, der Präsident sei ein Untergebener der Bundeskanzlerin.
Als Kontrollorgan stellt er einerseits die Verfassungskonformität der Gesetzgebung sicher – und andererseits verhindert er die permanente Blockierung von eminent wichtigen Gesetzen durch den Bundestag. Hinzu kommt noch die repräsentative Funktion, die in der Gesellschaft allgemein geläufig ist. Der Bundespräsident hat somit eine wichtige und nützliche Position in unserer Gesellschaft inne – sollte man meinen. Jedoch ist das Staatsoberhaupt in unserer Republik nicht mehr unumstritten.

Als Horst Köhler 2010 wegen der andauernden Medienschelte zu seiner Äußerung über die militärische Wahrung deutscher Wirtschaftsinteressen im Ausland zurücktrat, fand am 30. Juni 2010 die Wahl eines neuen Staatsoberhauptes durch die 14. Bundesversammlung statt. In der Öffentlichkeit wurde – gerade durch den Rücktritt Köhlers – die Wahl an sich und die Position eines Bundespräsidenten kontrovers diskutiert. Ist eine Stelle in unserer Demokratie, die hauptsächlich eine Vertreterfunktion besitzt, denn noch zeitgemäß?

Die Wahl zum Bundespräsidenten konnte Christian Wulff (CDU) für sich entscheiden, obwohl sich die Deutschen bei einer Direktwahl (wie es in der Weimarer Republik üblich war) für den parteilosen Joachim Gauck entschieden hätten. Merkel konnte sich mit ihrer Präferenz wieder einmal durchsetzen.
Abgesehen von dem fragwürdigen „Einbruch des Halbseidenen in die Politik” – wie es Monika Maron in der FAZ vor wenigen Tagen dargestellt hat – fragten wir uns abermals: Reicht die Dreiteilung Regierung (ohne Wulff) – Parlamente – Gerichte nicht aus? Wäre der ehemalige Beauftragte der Stasi-Unterlagen Gauck ein vielleicht besserer Präsident geworden? Muss der Steuerzahler wirklich fast 280.000 Euro jeden Monat zahlen, nur um Wulff ein adäquates Gehalt zu bieten?

Diese Fragen kann man nicht mit Ja oder Nein beantworten. Wie bereits festgestellt wurde, ist eine zusätzliche Person an der Spitze des Staates durchaus nützlich und bestärkt den Erhalt unserer Demokratie. Doch an der Umsetzung mangelt es zunehmend. Köhler und Wulff sahen beziehungsweise sehen sich als Männer des Volkes – und gerade deshalb ist ein Gehalt dieser Größenordnung übertrieben. Da das Einkommen sich an der monatlichen Summe für Frau Merkel orientiert, ist klar, dass auch dort gespart werden muss.

Auch die Besetzung des Amtes muss hinterfragt werden. Die Präferenz vieler Deutscher für Gauck war bereits ein schlechtes Omen, auch wenn der Theologe aus Rostock mit seinem Ja für den Afghanistan-Einsatz und seiner Position zur DDR nicht in allen Kreisen akzeptabel war. Wulff hingegen macht es sich auch nicht leicht.
Ein Beispiel: Die Werbekampagne für sein Buch; welche von seinem Freund Carsten Maschmeyer mit über 42.000 Euro unterstützt wurde – Wulff wusste von dessen Finanzierung angeblich nichts.

Wenn ein Freund von Ihnen Sie mit einer Summe unterstützt, die das Doppelte eines Facharbeiter-Jahreseinkommens beträgt, würde er da nicht vorher mal anrufen, nachfragen oder Bescheid geben? Wulff sollte wissen, dass, nach den Attacken von BILD und Co. auf Köhler, sein Verhalten in den letzten Wochen und Monaten genug Vorlagen für mindestens ebenso viel Kritik und Spott geboten hat.
Als Vertretung Deutschlands auf der innen- und außenpolitischen Bühne sollte er seine Aussagen und sein Verhalten so integer gestalten, dass er nicht nur Respekt und Anerkennung erhält, sondern auch ein Vorbild und Motivation für uns Bürger bieten kann.

Das ist – neben der Kontrollinstanz und der repräsentativen Funktion – nämlich Christian Wulffs Kernaufgabe. Ein Bundeskanzler und ein Kabinett sind der Tagespolitik unterworfen, fallen Entscheidungen über die Führung unserer Republik. Das Staatsoberhaupt ist, nicht nur in Deutschland, losgelöst davon.
Es darf und soll kommentieren, vielleicht beraten, eine Figur der Identifikation für uns Bürger darstellen. Wenn Wulff dies beherzigt und seiner Rolle bewusst wird, kann er ein annehmbarer Präsident sein. Wenn er begreift, was dieses Amt bedeutet und seine Position nicht mehr zum eigenen Vorteil nutzt, hat er eine Chance, im Ansehen wieder zu steigen. Vielleicht aber ist es dafür mittlerweile auch zu spät.

(Text: Eric Elert)

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