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Wo der Mensch des Menschen Wolf ist

“Der Mensch ist eine Krankheit, das Geschwür dieses Planeten.” – so formulierte es der berühmte Agent Smith im Film „Matrix”. Wir seien die einzige Säugetierart, die ihren eigenen Lebensraum ausbeute und unbewohnbar mache, anstatt im Gleichgewicht mit ihrer Umwelt zu leben, stellte er angeekelt fest. Das klingt drastisch, aber in der Realität gibt es Orte, die vom Menschen so stark verseucht wurden, dass man sich wünscht, sie existierten nur im Inneren einer Computersimulation. Zwei davon sind La Oroya und Dserschinsk.
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Top-Ten-Listen gibt es für viele Dinge: Bücher, Kinofilme oder Klingeltöne. Aber die Liste der zehn schmutzigsten Orte der Welt ist wahrscheinlich weniger bekannt. Das amerikanische Blacksmith Institute erhebt sie regelmäßig zusammen mit dem Internationalen Grünen Kreuz.
In dieser Liste finden sich Städte, die durch Menschenhand zu gesundheitsgefährdenen, ja sogar lebensfeindlichen Orten geworden sind. „In diesen Städten werden Kinder krank und sterben, aber es wäre keine große Wissenschaft, etwas dagegen zu tun”, stellte Richard Fuller, Gründer und Direktor von Blacksmith, fest. Seine Umweltschutzorganisation hat es sich genau wie das Grüne Kreuz zum Ziel gesetzt, auf der ganzen Welt kontaminierte Orte zu finden und die Gefahrenquellen zu beseitigen.

Die „Bleikinder” von La Oroya
In 3750 Meter Höhe, in der kargen Landschaft der peruanischen Anden liegt La Oroya. In der Stadt am Mantaro-Fluss leben rund 50.000 Menschen und sie ist einer der giftigsten Orte der Welt. Der Abbau von Blei, Kupfer, Zink und Silber machte La Oroya seit Anfang des 20. Jahrhunderts zum unangefochtenen Bergbauzentrum von Peru. Zahlreiche Minenschächte durchziehen die umliegenden Berge, die Schornsteine der Schmelzhütten überragen die Stadt und hüllen sie in einen ständigen Nebel.

Das Blacksmith Institute geht davon aus, dass nahezu jeder Bewohner La Oroyas durch eines der Schwermetalle oder die bei der Verarbeitung frei werdenden Chemikalien kontaminiert ist. Schon vor zehn Jahren stellte das peruanische Gesundheitsministerium fest, dass 99 Prozent der Kinder, die hier leben, eine Bleikonzentration im Blut haben, die alle Grenzwerte sprengt. Sie erreicht das Dreifache des Standards der Weltgesundheitsorganisation, um genau zu sein. Diese „Bleikinder” seien in ihrer normalen Entwicklung stark beeinträchtigt, weil das Metall ihr Nervensystem und Organe wie Leber oder Nieren angreife, stellte die Menschenrechtsorganisation FIAN dazu fest.

Eigentlich müssen sich alle Bergbaufirmen gegenüber dem peruanischen Staat dazu verpflichten, in den Umweltschutz zu investieren, bevor sie eine Mine, eine Hütte oder gleich eine ganze Stadt kaufen. Das tat auch die Firma Doe Run als sie 1997 die Anlagen in La Oroya übernahm. Seitdem ist jedoch nichts passiert. Immer wieder beantragte das Unternehmen laut FIAN einen Aufschub der Fristen für die Umweltschutzmaßnahmen.

Dagegen regte sich in der Stadt, in Peru und in der ganzen Welt starker Protest. Doch Doe Run machte unmissverständlich klar, wer am längeren Hebel sitzt. Laut einem Hintergrundpapier zum Deutschen Katholikentag, der sich 2006 mit dem Thema befasste, drohte das Unternehmen protestierenden Arbeitern mit der Schließung der Anlage. Diese schlugen sich daraufhin aus Angst um ihren Arbeitsplatz auf die Seite der Firma. Mittlerweile unterhält Doe Run eine eigene Website über seine Aktivitäten in Peru, auf der von  zahlreichen Projekten zur Verbesserung der Lage in La Oroya die Rede ist. Dort ist die Rede von einer „Mission” und „Vision”.

190 Chemikalien im Grundwasser
Im kalten Krieg wurden sie gebaut, um vielleicht irgendwann den Klassenfeind im Westen zu treffen. Dazu kam es glücklicherweise nie. Aber heute – nach dem Fall des Eisernen Vorhangs – richten die Chemiewaffen aus Dserschinsk großen Schaden in der eigenen Bevölkerung an. Als die Sowjetunion noch bestand, war die russische Stadt ihre größte Produktionsstätte für chemische Waffen. Dieses Erbe tragen die Menschen in Dserschinsk bis heute.

Das städtische Umweltamt gab gegenüber Blacksmith an, zwischen 1930 und 1998 seien schätzungsweise rund 300.000 Tonnen Chemikalienabfälle aus den Waffenfabriken unsachgemäß entsorgt worden. Ungefähr genau so viele Menschen wie Tonnen sind dadurch bis heute geschädigt. Zum Beispiel schrumpfte die Lebenswerwartung der Dserschinsker enorm: Frauen werden im Durchschnitt noch 47 Jahre alt, Männer nur 42. Viele werden krank durch das verseuchte Trinkwasser, in dem sich sage und schreibe 190 verschiedene gefährliche Chemikalien finden lassen, darunter Senfgas und Blausäure.
Aber damit nicht genug: Die Gifte gelangen auch in den Fluss Oka, aus dem die Nachbarstadt Nischni Nowgorod ihr Trinkwasser bezieht. Auf diese Weise hat der Bau von Waffen gegen einen äußeren Feind letztendlich nur die Bewohner zweier Städte im eigenen Land getroffen.

Alle Städte auf der Blacksmith-Liste liegen in sogenannten Entwicklungs- oder Schwellenländern, keine einzige in einer westlichen Industrienation. Es sind Orte, die wie Dserschinsk ihre besten Zeiten bereits hinter sich haben oder an denen sich wie in La Oroya das Streben nach mehr noch immer manifestiert. Diese Länder wollen mehr Industrie, mehr Arbeitsplätze, mehr Konsum. Man könnte meinen, sie versuchen den Vorsprung, den die reichen Länder in Jahrhunderten aufgebaut haben, mit einem Sprung aufholen. Doch zu welchem Preis?

(Text: Timo Brücken)

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