Es gibt einen Moment in meinem Leben, den ich wohl nie vergessen werde. Den Moment, in dem ich das erste Mal einem anderen Menschen offen gestanden habe, dass ich schwul bin. In meinen Erinnerungen kommt mir dieser Augenblick heute beinahe unwirklich vor. Eventuell auch deswegen, da es eine vollkommen spontane Entscheidung war.
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Ich hatte zwar damals in unterschiedlichen Szenarien diese drei Worte geprobt, jedoch habe ich es nicht gewagt sie offen auszusprechen. Nicht einmal vor mir selbst. An diesem Tag kam es einfach aus mir heraus. Es kommt mir heute aber noch viel unwirklicher vor, dass es eine Zeit gab, in der ich mich vor mir und anderen verleugnet habe.
Denn heute weiß ich, dass sich nach außen zu verleugnen vor allem bedeutet, sich selbst nicht zu akzeptieren. Es ist schwer zu beschreiben, warum ich mich nicht selbst akzeptieren konnte. Ein Grund waren wohl die Umstände, in denen ich mich damals befunden habe. Denn als ich das erste Mal bemerkt habe, dass meine Aufmerksamkeit in Liebesfilmen eher dem hübschen Mann als der Frau galt, war ich von der Vorstellung und mir selbst angeekelt. Damals war ich ungefähr 16 Jahre alt.
Ich hatte vorher wenig Kontakt zum Thema Homosexualität. Ich kannte maximal die lächerlichen Darstellungen von Schwulen wie Brisko Schneider oder die 90-minütige Bück-dich-Parodie von Bully Herbig. Die ernsteste Darstellung von Homosexualität war der Film „Philadelphia“, in dem es um die Aids-Erkrankung eines Schwulen geht. Das hat es nicht wirklich besser gemacht. Für mich war Homosexualität etwas nicht Normales, etwas Problematisches und etwas, über das man sich lustig macht. So wollte ich nicht sein und ich hatte das Gefühl, dass etwas nicht mit mir stimmen kann, dass ich so geworden bin. Still und heimlich hatte ich die Hoffnung, dass es nur eine Phase sei und es bald vorbei ginge.
Es hat daher sehr lange gedauert bis ich eine positive Darstellung von Schwulen gefunden habe. Für mich war die Sitcom „Will & Grace“ die erste Serie, in der Homosexualität, trotz völlig überzeichneter Charaktere, nicht vollkommen abnormal und lächerlich dargestellt wurde. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl mich mit den Charakteren identifizieren zu können. Viel später kam dann die Drama-Serie „Queer as Folk“ nach Deutschland. Schwules und Lesbisches Leben wurde zum ersten Mal für ein Massenpublikum dargestellt (auch wenn die Serie im Nachtprogramm von ProSieben versendet wurde). Mit den Darstellungen vorher wollte ich mich jedenfalls nicht identifizieren.
Doch das war nur der erste Schritt. Denn nachdem ich gelernt hatte, mich zu akzeptieren, stellte sich für mich die Frage, wem ich davon überhaupt erzählen kann. Und vor allem wann? In der Schule war ein Outing für mich völlig undenkbar. In meiner Schulzeit – und ich glaube nicht, dass sich das geändert hat – gehörte das Wort „schwul“ zu den beliebtesten Schimpfworten. Bei pubertären oder postpubertären Jugendlichen ist Homosexualität eine Form der Schwäche. Darum hätte ich niemals gewagt mich zu outen, solange ich noch auf der Schule war.
Warum ist die Schule ein so homophober Raum? Im Unterricht findet das Thema nicht wirklich statt. Im Deutschunterricht sprachen wir zwar über das Buch „Tod in Venedig“, in dem es um eine pädophile Liebe eines Mannes zu einem Jungen geht. Wirklich sauber zwischen den beiden Themen wurde nicht getrennt. Aufklärung bedeutet nicht im Sexualkundeunterricht zu erwähnen, dass Sex auch zwischen zwei Frauen oder zwei Männern passieren kann, sondern muss in unterschiedlichen Fächern stattfinden. Ansonsten fand das Thema nicht statt. Auch wenn alle Bildungsplan-Gegner aufschreien werden, hätte ich mir gewünscht, dass dieses Thema mehr in der Schule thematisiert würde.
Doch auch nach der Schule habe ich mir schwer getan, offen zu meiner Homosexualität zu stehen. Und das, obwohl ich das Glück hatte in einem vollkommen liberalen Elternhaus aufzuwachsen. Meine Eltern haben bei mir niemals den Eindruck erweckt, dass sie Schwule und Lesben verurteilen. Trotzdem hatten meine Eltern – das wusste ich – gewisse Erwartungen an mein Leben: Freundin, Hochzeit, Kinder. Diese Erwartungen zu enttäuschen war ein belastendes Gefühl.
Ich habe von vielen Freunden gehört, dass ihre Eltern schon lange ahnten, dass sie schwul seien. Bei mir war es nicht so. Dass ich mit 19 noch nie eine Freundin mit nach Hause gebracht hatte, schien meine Eltern nicht wirklich misstrauisch zu machen. Die Christina Aguilera Poster in meinem Zimmer schienen zumindest den Eindruck zu erwecken, dass ich auf halbnackte Frauen stehen könnte. Ich hätte mir damals gewünscht, dass sie mich einfach fragen und mir diesen Schritt abnehmen würden. Denn wie sagt man seinen Eltern, dass man schwul ist? Eine wirklich gute Gelegenheit gibt es nicht. Es bleibt immer ein künstlich herbeigeführtes Gespräch. Meinem Vater habe ich es damals sogar zwischen Tür und Angeln zugerufen und bin dann schnell geflüchtet, da ich die Reaktion nicht ertragen konnte. Es gibt sicher bessere Varianten.
Der Moment, an dem ich es aber endlich einer anderen Person sagen konnte, wer ich bin, war für mich eine große Befreiung. Von da an hat sich mein Leben grundlegend verändert. Ich würde heute sagen, dass ab diesem Zeitpunkt mein Leben eigentlich erst begonnen hat. Die negativen Erfahrungen, vor allem in meinem direkten Umfeld sind zu vernachlässigen. Sie waren so unbedeutend, dass ich mich kaum noch an sie erinnere. Das Positive hat für mich überwogen. Ich weiß auch, dass das nicht die Regel ist und ich großes Glück hatte. Viele Lesben und Schwule stoßen nach ihrem Outing auf Ablehnung und Ausgrenzung.
Homosexuell zu sein verlangt es, sich früh mit der eigenen Identität und dem eigenen Umfeld auseinander zu setzen. Es geht darum, auszuloten, wie die nächsten Menschen auf das eigene Outing reagieren könnten. Denn auf das nächste Umfeld kommt es an, ob ein Kind schnell zu sich stehen kann. Wir können die Gesellschaft, in der homosexuelle Kinder aufwachsen gestalten und dafür sorgen, dass dieser Weg einfacher wird. Das fängt mit dem Bild an, das Homosexuelle in unserer Wahrnehmung haben. Schwul oder lesbisch darf nicht mehr als Schwäche oder Abnormität gelten.
Akzeptanz für andere Lebensstile muss konsequent in alle Bereiche des öffentlichen Lebens übertragen. Dazu gehört für mich neben einer völligen rechtlichen Gleichstellung auch die Integration des Themas in die Schule. Nicht nur, dass dort stärker gegen Mobbing (generell und speziell gegen homosexuelle Jugendliche) vorgegangen werden muss, sondern auch, dass Toleranz und Akzeptanz gegenüber Homosexuellen in den Unterricht integriert werden muss. Für mich wäre es ein Wunschtraum, wenn eines Tages mehrheitlich Homosexualität als das gesehen würde, was es ist: eine natürliche Form zu leben und zu lieben. Dann fiele es Jugendlichen auch nicht mehr schwer, zu sich zu stehen.
Gastbeitrag von David Renner:
David Renner bloggt unter Just Dave`s Blog seit Anfang 2013. Er schreibt über sich selbst und das Leben als Schwuler.
(Text und Foto: David Renner)