Wo Menschen unter einem Dach zusammenleben, da scheinen die Wände Ohren zu haben. Hätten sie aber Münder, so wüssten sie sicher einiges über die vielseitigen Leben derer zu erzählen, die sich zwischen ihnen aufhalten. Seit 1958 können Anni (91) und Johann Raab von Wohnkultur in den eigenen vier Wänden berichten.[divide]
„Es war ein absoluter Glückstreffer“, erinnern sich Anni und Johann Raab. Die damals noch junge Familie, die bis dahin in einer Sozialwohnung in Nürnberg lebte, war auf der Suche nach etwas Neuem, denn es kündigte sich Familienzuwachs an. Angesprochen auf einem 50. Geburtstag wurde ihnen ein Grundstück in zentraler Lage angeboten. Johann, als Beamter der Stadt Nürnberg, bekam ein zinsloses Darlehen für den Wohnungskauf. Der erste Schritt für den Einzug 1958 war getan.
Glückstreffer ins Grüne
Doch zu Beginn schien der Traum von den eigenen vier Wänden noch weit entfernt. Wo später die Wohnblocks entstehen sollten, war zunächst nicht viel mehr als eine große Verwüstung, die der Krieg in Nürnberg hinterlassen hatte. Doch das Angebot war günstig und in zentraler Lage. „Zu Beginn konnte man noch vom Balkon auf die Burg sehen, da noch viel zerstört war“, erinnert sich Johann zurück. Aber die Wohnung war optimal im Grünen gelegen. Es gab kurze Wege zur Arbeit und zum Einkaufen. Zudem war sie in ihrer Art ihrer Zeit voraus, da sie mit Aufzug und ohne zusätzliche Treppen schon damals unbewusst altersgerecht gebaut wurde. Ein Vorteil, den beide im hohen Alter zu schätzen wissen, wie sie rückblickend erzählen.
„Es wurde viel gebaut. Am Anfang waren Ruinen, später kamen Schulen, Ämter und Supermärkte“,
erinnert sich Anni zurück. Über die vielen Jahre gab es viele bauliche Veränderungen, doch die Wohnung hat ihren Reiz behalten, wie sie erklärt: „…Wir haben die drei W: Wiese, Wasser und Wald.“
Zusammen wohnen, gemeinsam leben
„Wir wohnen nicht um zu wohnen, sondern wohnen um zu leben“, erkannte einst der Theologe Paul Tillich. „ Wohnungen selbst sind neutrale Bauten. Es sind Menschen darin, die sie besondern machen“, finden Johann und Anni. Viele Familienfeste wurden hier gefeiert, die Familie traf sich in der Wohnung und kam zusammen. Anfang der 1960er Jahre gab es viele Kinder erinnern sie sich.
„Man ging einfach in den Hof zum Spielen, oder auf die Wiese nebenan. Man kam einfach zusammen und spielte gemeinsam Fußball.“
Wo Wände stehen, da gibt es Türen. In all den vielen Jahren haben viele Menschen diese Türen durchschritten. Darunter Prominente wie Hans Rudolf Beierlein, der Manager von Udo Jürgens. Seine Eltern wohnten direkt im Nachbarhaus. An Beierlein erinnern immer noch zwei Stühle in der Wohnung. Andere prominente Besucher waren Hans Sachs, der regelmäßiger Gast in der Sendung „Was bin ich?“ war. Sportliche Gäste waren der FCN Meistertrainer 1968, Max Merkel, oder Clubspieler Michael Kammermeyer … Sie alle stammten aus der direkten Nachbarschaft. Letzteren haben beide von Geburt an aufwachsen sehen. In all den vielen Jahren hat sich zwischen diesen vier Wänden vieles ereignet. Besonders wichtig ist den beiden Urgesteinen: „Es gab nie einen Streit im Haus. Die gute Hausgemeinschaft ist geblieben.“
Als Beamter der Stadt hatten Johann und Anni das Glück beruflich langfristig planen und dauerhaft an einem Ort sesshaft werden zu können. Dem Trend zu immer größerer Flexibilität stehen sie negativ gegenüber. „Man muss sich auch eingewöhnen können und zu Hause ankommen“, merkt Johann an. Beide bedauern, dass der ständige Umzug zu Lasten des sozialen Kontaktes, zu mehr Anonymität ginge.
„Wir sind die einzigen, die den ganzen Tag zu Hause sind. Daher sind wir die Poststation für das ganze Haus. Auf diese Weise haben wir Kontakt zu allen Bewohnern des Hauses“, freuen sich beide, die seit Anfang an und nun am Längsten im Haus wohnen.
Wo Menschen unter einem Dach zusammenleben, da haben die Wände Ohren. Hätten die Wände auch Münder, so wüssten sie viel über das Leben ihrer Bewohner zu berichten.
Als in den 1950ern der erste Spatenstich getan wurde, wurde das Grundstück auf 120 Jahre verpachtet. Die Hälfte dieser langen Zeit haben Anni und Johann bereits miterleben dürfen. Für die Zukunft wünschen sich beide:
„Wir hoffen, dass das gute Wohnverhältnis weiter bestehen bleibt, denn in einer Wohnung muss man sich auch wohlfühlen.“
Mit diesen Worten schließen sie und freuen sich bereits auf den nächsten Besuch.