Westen

Im Archiv

01trafficlightVeronika Schubert verbringt drei Wintermonate in Manchester. Dort sammelt sie für backview Geschichten über Sprache, Land und Leute. Zwei Tage in der Woche macht sie ein Praktikum bei der International Anthony Burgess* Foundation und findet heraus, was eine Archivarin so tut.

 

 

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Vor zwei Monaten saß ich im Bus nach Manchester und überlegte, wie mein Praktikum bei der IABF wohl werden würde und was meine Aufgaben sein würden. Und ich hoffte, so viel wie möglich über die Tätigkeiten einer Archivarin zu lernen. Jetzt, zwei Monate später, kann ich berichten.

Die Stiftung
Dienstags und Mittwochs steige ich in den Bus und bei der BBC (die jetzt nicht mehr dort ist, aber immer noch der Haltestelle ihren Namen verleiht) wieder aus. Im Spar an der Ecke hole ich mir Milch und Frühstückskekse, dann mache ich mich auf zur 3 Cambridge Street. Das Gebäude ist beeindruckend und auf Mancunische Weise hübsch: rote Ziegel und viel Glas – eine moderne Interpretation von Manchesters industrieller Vergangenheit.

Obwohl die IABF hauptsächlich ein Archiv für den Nachlass von Anthony Burgess und ein Ort für kulturelle Veranstaltungen ist, fällt zunächst einmal das integrierte Café auf, das man durch die gigantische Glasfront sehen kann. Wenn ich morgens ankomme, ist in der Regel eine der jungen Frauen, die dort arbeiten, schon im Gespräch mit der Assistentin fürs Archiv oder der Sekretärin, und bereitet sich dabei auf einen Tag voller Tees, Sandwiches und Salate vor. Im Vorbeigehen grüße ich sie, und während wir How-do-you-dos austauschen, mache ich uns Tee. Dann setze ich mich zu ihnen, knabbere Kekse. Und schließlich ist es Zeit, ins Archiv hinabzusteigen.

Das Archiv
Das Archiv besteht aus mehreren Lagerräumen und einem kleinen Lesesaal. Es beherbergt Tausende von Burgess’ Büchern und Vieles mehr aus seinem umfangreichen Besitz. Es gibt Manuskripte und Fotos, VHS-Kassetten und Dias, Korrespondenz und Tarotkarten; es gibt Bilder, Noten und Zeitungsausschnitte. Es gibt eine ganze Menge Schreibmaschinen; es gibt Möbel, Musikinstrumente, Spielzeug und malaiische Kunst. Es sind so viele Dinge, dass ich kaum glauben kann, dass sie einer einzigen Person gehört haben sollen.

Einiges davon liegt in Schaukästen zum Ansehen bereit. Wer auf einen Tee ins Café kommt, kann dazu ein Buch kaufen, das einmal original in Burgess’ Haus herumgelegen hat. Und wer sich auf dem Weg zur Toilette die Treppe in den Keller hinunterwagt, kommt an Cembalos, einem Dudelsack und einer Sammlung bunter Schreibmaschinen vorbei. Wer möchte, kann sogar im Lesesaal umgeben von Burgess’ Büchern Platz nehmen und die persönlichen Notizen in diesem einen Buch studieren, über das sie oder er gerade eine Dissertation schreibt.

Die meisten Sachen warten jedoch noch darauf, katalogisiert zu werden, und hier beginnt die Arbeit.

Archivierung
Demzufolge, was ich in den letzten zwei Monaten gelernt habe, bedeutet Archivarin sein, sich die Objekte anzuschauen, sie zu ordnen und zu katalogisieren, um sie leichter auffindbar zu machen, sie instandzuhalten und zu reparieren und sie schließlich sicher zu verstauen. Kurz: Nimm einen Haufen Dinge und mach eine sinnvoll sortierte Sammlung daraus.

Das aktuelle Projekt im IABF-Archiv ist die Korrespondenz: mehrere Pappkartons randvoll mit unzusammenhängenden Briefen, die Burgess im Laufe von fünf Jahrzehnten erhalten hat. Meine Aufgabe ist es, sie mit der Archivassistentin durchzusehen, sie von rostigen Büro- und Heftklammern zu befreien, sie zu lesen und dann ja nach Art des Briefes zu sortieren.

Da gibt es persönliche Briefe von Freunden, Familie und Schriftstellerkollegen, Verlagspost, Anfragen von ÜbersetzerInnen und Studierenden, Notizen von Sekretärinnen und Hotelempfangsdamen, Rechnungen und Verträge, Weihnachtskarten, Postkarten und Visitenkarten, Faxe und Telegramme und auch noch leere Briefumschläge.

Und schließlich gibt es da die Fanpost, meiner Meinung nach der interessanteste Teil. Viele Fans bitten lediglich um ein Autogramm oder ein persönlich signiertes Foto. Andere drücken ihre ehrliche Bewunderung für den Autor Burgess aus. Manche weisen auch auf faktische oder orthographische Fehler in seinen Büchern, Artikeln, Interviews hin. Und dann gibt es jene, die seine angeblich blasphemische Haltung dem Christentum gegenüber kritisieren. Es gibt Autoren, die ihm ihr Buch schicken und auf eine positive Rezension hoffen. Und hin und wieder schreibt ihm jemand, weil er oder sie sich beim Lesen seiner Bücher im Innersten verstanden fühlt, und erzählt ihm ein bisschen aus dem eigenen Leben, meistens über die schwierige Situation, in der er oder sie sich gerade befindet.

Beim Lesen all dieser Briefe frage ich mich: Wie sähe mein eigener Fanbrief an meinen Lieblingsautor aus? Wie würde ich ihn ansprechen? Würde ich versuchen, gescheit und ironisch zu wirken, damit er sieht, dass offenes Bewundern unter meiner Würde ist, auch wenn ich genau das gerade tue? Hätte ich genug Vertrauen in ihn, um ihm persönliche Dinge zu erzählen? Und würde es mir etwas ausmachen, wenn mein Brief später in einem Archiv weiterlebte und von Archivarinnen gelesen würde?

Zurück in der Gegenwart
Und so, nach einem ganzen Tag mit alten Briefen, verlasse ich das Archiv. Es ist später Nachmittag, es ist dunkel und kalt draußen und oft auch noch windig. Manchmal nehme ich den Bus ab der BBC bis nach Whalley Range. Manchmal gehe ich zu Fuß nach Hause und lasse das wilde Wetter all den alten Archivstaub aus meinem Gehirn pusten. Willkommen in der Gegenwart!

 

* Anthony Burgess (1917-1993) war unter anderem ein britischer Autor, der heute hauptsächlich für seine Dystopie A Clockwork Orange bekannt ist. Dass er noch viel mehr war, erzählt Wikipedia recht ausführlich, vor allem in der englischen Version.

Da Veronika, unter anderem, Englische Sprachwissenschaft studiert, schreibt sie ihre Texte auch regelmäßig auf Englisch. Die Übersetzung findet ihr hier.

 

(Text: Veronika Schubert)

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