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“Betreten für Hunde und Juden verboten”

Daran dachte der junge Herman Zimmermann noch nicht, als er damals, Mitte der dreißiger Jahre, auf den Straßen von Köln eine Hitler-Rede hörte: „Ich werde nicht eher ruhen, bis der letzte Jude in Europa ausgerottet ist!” Viele Jahre später ist er einer der Juden, die den Holocaust überlebten. Quer durch Europa führte in seine Flucht, die ihm ein noch schlimmeres Schicksal ersparte.

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Auf der Straße wurden die Mitglieder der Familie Zimmermann bald nur als „Jude” beschimpft. Mutter Mali durfte nicht mehr ins Schwimmbad, wo sie zuvor wöchentlich gebadet hatte. „Hunde und Juden” durften weder Parkbänke benutzen, noch Kinos und Theater betreten. „Endlich erkannten meine Eltern den Ernst der Lage und handelten”, schreibt Herman in seinem Buch. Der älteste Bruder Leo, der flüchten musste, lebte in Antwerpen und wollte seine Familie aufnehmen. „1938 setzen meine Eltern die 16-jährige Mia, den 14-jährigen Julius und mich (damals zwölf) in den Zug. Wir sollten versuchen, nach Holland zu gelangen. Leo würde von Belgien kommen und uns abholen.”

Transport in Viehwaggons
Von Bauern im Heuwagen versteckt, erreichte die Familie Holland und später Belgien. Kurz nach der Reichskristallnacht ergriffen auch die Eltern Mali und Peretz die Flucht. In Belgien lebte die Familie in einem der vielen Flüchtlingslager. Die Kinder durften bei reichen Familien nächtigen und essen, gingen zur Schule und lernten Flämisch.
„Am 10. Mai 1940 hörten wir früh morgens Schüsse und den Lärm von Flugzeugen. Es wurde gemeldet, dass die deutsche Armee mit der Invasion von Belgien begonnen hatte. Mein erster Gedanke war: ‚Hurra, ich muss heute nicht in die Schule gehen!'”. Leo war inzwischen bei der französischen Armee, aber die anderen Kinder mussten zusammen mit den Eltern die Flucht ergreifen. Julius allerdings war in der Schule nicht zu erreichen und musste zurückgelassen werden.
In Viehwaggons wurden Menschen transportiert, zwei Tage und zwei Nächte. Trotzdem waren sie noch in Belgien und marschierten mit tausenden anderen in Richtung Frankreich. Zunächst durften nur Familien mit belgischen Pässen die Grenze passieren, am Ende war aber auch Familie Zimmermann mit ihren polnischen Papieren in Sicherheit.

Das ganze Leben auf einer ewigen Reise
Die Eltern wollten nicht im Flüchtlingslager bleiben und zogen weiter nach Dünkirchen. Da die Stadt schwer bombadiert wurde, verbrachten sie den Großteil ihrer Zeit im Luftschutzkeller. Mali und Peretz beschlossen also nach Paris zu laufen, wo sie Unterschlupf bei einer Angehörigen fanden. Weil die Deutschen schon kurz vor Paris waren, fuhr die Familie mit dem nächsten Zug nach Bordeaux.
Die Behörden schickten die Familie weiter nach Saugnac, auf einen großen Bauernhof. Doch auch hier waren sie vor den Deutschen nicht sicher und mussten mit einem der Militärtransporter nach Pau, einem unbesetzten Teil Frankreichs. Über Lourdes und Tarbes kamen sie in Auch an, wo hunderte von Flüchtlingen Zuflucht fanden. Die Kinder gingen zur Schule und lernten Französisch.

Erneut musste die Familie weiter reisen – nach Eauze. Ein alter, heruntergekommener Friseurladen wurde zum neuen Zuhause. „Die Männer durften nicht arbeiten, und jede Familie erhielt Lebensmittelgutscheine und etwas Geld, um Essen zu kaufen. Niemand durfte sich mehr als 500 Meter der Stadtgrenze entfernen.” Eines Tages stand Julius vor der Tür. Später hörte die Familie auch von Leo, der in die Schweiz geflohen war. Schwester Mia, Hermans Liebling, fühlte sich allerdings zunehmend unwohl in Eauze und zog nach Lyon. Ein kleiner Lichtblick: In der Zeit in Eauze lernte Herman seine erste große Liebe kennen, Edith Steinfeld.

Im August 1942 zwangen französische Gendarmen, auf nicht-französischen Befehl, alle jüdischen Familien in einen Bus zu steigen. Julius gelang es, sich zu verstecken und ein Arzt spritzte Mali Zimmermann ein Mittel, von dem sie Krämpfe bekam, weshalb sie nicht verreisen konnte. Herman selbst fuhr später von Toulouse nach Lyon, um bei seiner Mia und ihrem Ehemann Harry Unterschlupf zu finden. Viele Male gelang es Herman, Mia und Harry dem fast sicheren Tod zu entkommen, immer wieder konnten sie vor der Gestapo fliehen. Viel später hatte Harry weniger Glück und wurde erwischt. Man hörte nie wieder etwas von ihm. Der Polizeichef von Eauze organisierte derweil, dass auch Julius und Mutter Mali nach Lyon kommen konnten.

Aufgrund der sich zuspitzenden Situation in Frankreich – die Gestapo tauchte sogar in der Wohnung der Familie auf und wurde durch die mutige Vermieterin vertrieben – beschlossen Julius und Herman in die Schweiz zu fliehen. Durch eine Täuschung der Gestapo gelang den Brüdern die Flucht nach Thonon. Auf einem Landweg über die Berge wollten sie nun in die Schweiz gelangen. Ein Hirte schützten die Geschwister vor der Gestapo und macht die Reise überhaupt erst möglich. Eigentlich beschloss die Schweiz, dass französische Flüchtlinge zurück geschickt werden. Doch die Brüder hatten erneut Glück – anders als tausende andere Juden.

Julius kam in ein Flüchtlingslager, Herman kam zur Familie Herz und konnte zur Schule gehen. 1944 bekam er schließlich eine der schönsten Nachrichten der Kriegszeit: Seine Eltern waren in der Schweiz angekommen. Vater Peretz durfte das KZ Le Vernet verlassen, weil Leo freiwillig in der französischen Armee gekämpft hatte. Kurze Zeit später erfuhr die Familie, dass auch Leo die Schweiz erreicht hatte. Er ging allerdings nach Frankreich zurück, um sich einer Untergrundorganisation anzuschließen.

Das Leben nach dem Krieg
Den Krieg überstand die Familie in der Schweiz und zog danach zurück nach Lyon und später nach Paris. Herman wurde Fußballspieler und lebte sich wieder in Frankreich ein. Nach dem Gefechten verließ die Familie allerdings das Glück, denn kurz nacheinander verstarben Vater Peretz (Hirntumor) und Schwester Mia (an den Folgen einer Geburt) im Alter von nur 25 Jahren.

Herman lernte bald darauf seine spätere Frau Eliane kennen und emigrierte zusammen mit Julius in die USA, was für ihn ein lang gehegter Lebenstraum war.

1953 wurde Herman von der amerikanischen Armee eingezogen und kehrte nach einigen Monaten als GI nach Frankreich zurück, wohin im Eliane nachreiste. Er nutzte die Zeit, um mit seiner Vergangenheit aufzuräumen und reiste noch einmal nach Eauze. Er erwischte genau den Tag, an dem der Arzt, der damals seine Mutter vor dem fast sicheren Tod im KZ bewahrte, mit der höchsten Ehrenmedaille ausgezeichnet wurde. 1964 spazierte Familie Zimmermann über die Champs-Elysées und traf zufällig auf den Vater von Roslie, die man Herman anvertraute, als die Eltern ins KZ transportiert wurden. Lediglich der Vater und Rosalie hatten den Holocaust überlebt.

Was einen für immer verfolgt
„Oft sehe ich die Gesichter der Freunde vor mir, die verraten, verschleppt und in den Tod geschickt wurden, in einen Tod, der umso schrecklicher war durch die unmenschlichen Methoden, die angewandt wurden, um die schändlichen Ziele der Nationalsozialisten zu erreichen”, schreibt Herman in seinem Buch „Ein Engel an meiner Seite”. Er hatte, wie nicht sehr viele seiner Freunde, immer jenen Engel an seiner Seite und überlebte den Holocaust, der sechs Millionen Juden in Europa den Tod brachte.

Die Aufklärungsarbeit von Herman Zimmermann: “Der Funke Hoffnung”

(Text: Miriam Keilbach)

Miriam K.

Miriam war 2007 im Gründungsteam von backview.eu. Sie volontierte beim Weser-Kurier in Bremen und arbeitet seit 2012 als Redakteurin bei der Frankfurter Rundschau. Ihre Themen: Menschen, Gesellschaft, Soziales, Skandinavien und Sport.

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