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“40 Prozent aller Männer hatten schon schwulen Sex”

Martin Enders ist jemand, der Bescheid weiß, wenn es um Homosexualität geht. Er ist Berater beim KCM-Schwulenzentrum in Münster und selbst schwul. Er leitet außerdem das Aufklärungsprojekt “andersrum aufgeklärt”, mit dem das Team vom KCM Schulklassen besucht.
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back view: Herr Enders, woran merkt man eigentlich, dass man schwul ist?
Martin Enders:
Diese Frage wird mir oft in Schulklassen gestellt. Ich antworte meistens mit einer Gegenfrage, woran die meisten der Schüler gemerkt haben, dass sie hetero sind. Das ist halt einfach irgendwann so, dass man merkt, dass man gewisse andere Personen erotisch und begehrenswert findet.
Und als Schwuler stellt man halt fest, dass diese Personen das gleiche Geschlecht haben. Man kann aber durchaus tendenziell eher hetero sein und mal eine eher bisexuelle oder schwule Phasen haben. Schließlich belegen Untersuchungen, dass ca. 40 % aller Männer irgendwann mal sexuelle Erfahrungen mit dem eigenen Geschlecht gemacht haben, was ja weit über dem Anteil schwuler Männer liegt (ca. 6-8 % aller Männer sind schwul).

regenbogenWie haben Sie gemerkt, dass Sie schwul sind?
Bei mir war es so, dass ich mit ca. 13 oder 14 gemerkt habe, dass ich eher auf Männer stehe. Ich dachte aber lange, dass sich das ändert, wenn ich eine Freundin habe. Als ich dann eine Freundin hatte, hat sich da dummerweise gar nichts geändert und so musste ich mir irgendwann eingestehen, dass ich wohl schwul bin. Da war ich so etwa 20. Und dann hat es noch ca. 4-5 Jahre gedauert, bis ich angefangen habe das auch anderen zu erzählen. So ähnlich läuft es bei vielen Schwulen ab, auch wenn die meisten nicht ganz so viel Zeit brauchen, wie das bei mir der Fall war. Der berühmte Psychologe Sigmund Freud hat mal gesagt, jeder hätte eine „angeborene Bisexualität”.

Heißt das, jeder Mann ist zumindest ein klein wenig schwul?
Das wird jetzt etwas schwierig, da es zu dem Thema sehr unterschiedliche Theorien gibt, aber bislang keine dieser Theorien eindeutig die Entstehung von Homosexualität erklären konnte. Was die in der Frage angesprochene Theorie angeht: Diese geht eben davon aus, dass jeder Mensch bisexuell geboren wird und durch seine Erziehung, sein Umfeld, seine Freunde, etc. geprägt wird und sich so seine sexuelle Orientierung entwickelt. In der Regel wird heute aber davon ausgegangen, dass eine Neigung zur Homosexualität bereits bei der Geburt feststeht und man daraus zusammen mit diversen sozialen Einflüssen seine sexuelle Orientierung entwickelt. Insofern würde ich nicht sagen, dass jeder schwul werden kann, man hat aber ziemlich wenig Einfluss darauf.

Sie haben gerade selbst gesagt, ganze 40 % aller Männer machen gleichgeschlechtliche Erfahrungen. Kann man sich denn nach so einer Erfahrung dann bewusst entscheiden, schwul zu sein?
Ganz klar: Nein! Oft wird ja behauptet, es sei heute “in”, schwul zu sein, weil man halt sehr viel mehr Schwulen begegnet, als noch vor 10 oder 15 Jahren. Das liegt aber eher daran, dass man als Schwuler heute sehr viel einfacher leben kann, als früher und sich daher immer weniger Schwule verstecken.
Man kann sich aber genauso wenig dazu entscheiden schwul zu sein, wie man sich als Schwuler dazu entscheiden könnte, heterosexuell zu sein. Man hat einfach keinen Einfluss darauf. Aus diesem Grund finde ich es auch so unverständlich, wenn Schwule gedisst werden. Es ist ja nicht so, als ob man das ändern könnte. Seine sexuelle Orientierung kann man genauso wenig beeinflussen, wie seine Hautfarbe.

Wenn man sich klar wird, schwul zu sein – wie sagt man es dann am besten den Freunden oder der Familie?
Ich glaube, dafür gibt es keinen passenden Zeitpunkt. Die meisten schieben das vor sich her, weil sie auf diesen bestimmten Moment warten, in dem das ganz gut passt. Das Problem ist: Es passt nie und der Satz “Ich bin schwul” fühlt sich anfangs immer schräg an, egal in welcher Situation man ihn zum ersten Mal sagt. Ich glaube, dass es wichtig ist sich daran zu erinnern, wie viel Zeit man selbst gebraucht hat, um die eigene Homosexualität zu akzeptieren. Da sollte man von seiner Familie nicht automatisch erwarten, dass diese das von jetzt auf gleich akzeptiert.

Wenn mein bester Kumpel mir eröffnet, dass er schwul ist – wie sollte ich als Freundin reagieren?
Vor allem ehrlich. Ich finde es wichtig, dass man dazu steht, wenn man damit ein Problem hat, denn nur dann kann man darüber reden. Die Fragen, die man dazu hat, sollten also schon gestellt werden. Oft hilft es auch sich daran zu erinnern, dass der Mensch, der sich da gerade geoutet hat, genau derselbe ist wie der, den man vorher kannte. Ich finde es hier aber wichtig zu erwähnen, dass die meisten Schwulen später überrascht sind, wie gut ihre Freunde und Familie mit dem Coming Out umgegangen sind. Natürlich gibt es auch hier negative Beispiele, diese sind aber relativ selten.

Wie öffnet man sich als Schwuler anderen Männern, in die man sich möglicherweise verliebt hat?
Ich würde erst mal mit einem generellen Coming Out anfangen und erst mal schauen, wie die Reaktion ist. Aber nicht zuletzt aus diesem Grund gibt es ja das KCM, schwule Parties, etc. Da weiß man dann zumindest schon mal einigermaßen sicher, dass sich dort fast nur schwule Männer aufhalten. Und wenn man sich als schwuler Mann in einen anderen schwulen Mann verliebt, dann unterscheidet sich alles weitere kaum von einem heterosexuellen Paar. Dann geht es halt nur darum, ob ich mich irgendwann traue, das auch zu sagen oder eben nicht.

In fast jedem Film gibt es einen “Quoten”-Schwulen, in großen Betrieben werden teilweise Homosexuelle bei Neueinstellungen bevorzugt, um die Bevölkerung bei den Angestellten widerzuspiegeln – aber wie aufgeklärt ist unsere Gesellschaft wirklich? Welche Vorurteile haben sich noch in den Köpfen gehalten?
Ganz unterschiedlich. Die gängigsten Vorurteile sind natürlich, dass Schwule ständig nur an Sex denken, jeden Tag mindestens einen anderen Sexualpartner haben, nicht treu sind und keine längeren Beziehungen führen. Außerdem stellen sich viele Leute vor, dass Schwule immer irgendwie schrill sind, weil sie im Fernsehen eine CSD-Parade (Christopher-Street-Day, Anm. d. Red.)  gesehen haben, wo alle Schwulen ganz lustig aussahen. Das finde ich immer seltsam, denn wenn ich einen Rosenmontagszug im Fernsehen sehe, denke ich mir ja auch nicht “Da schau, so sind also heterosexuelle Menschen. Komisch sind die!”
Wenn wir in der Fußgängerzone einen Infostand haben, bekommen wir aber nur ganz selten negative Reaktionen. Oft kommen gerade ältere Menschen eher interessiert und möchten mehr Informationen haben. Insgesamt lässt es sich als Schwuler in Deutschland also ganz gut leben.

Herr Enders, vielen Dank für das Interview!

(Text: Anna Franz / Foto: Fabian E. by jugendfotos.de)

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