Meinungen

Nur noch “Die da” schreiben

Fast jeder Student kommt mal an den Punkt, an dem er „nur noch” seine Abschlussarbeit hinter sich bringen muss. Den Punkt, an dem er noch mal alles geben, sowie alle seine Fähigkeiten und Erkenntnisse unter Beweis stellen kann. Klingt nach der schönsten Phase in der Studienzeit. Doch ist sie das auch?

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Jetzt kommt’s drauf an. Es reicht es nicht mehr, nur zu wissen, was die beste Taktik ist, um die Einführungsvorlesung zu bestehen, ohne das Skript ausgedruckt zu haben oder nur daran zu denken, sich auf der Anwesenheitsliste vom Kommilitonen eintragen zu lassen. Jetzt geht es darum, selbst eine wissenschaftliche Arbeit anzufertigen, einen publikationsreifen Text zu schreiben, und sich irgendwie auch selbst wiederzufinden.

Gedanken macht man sich mindestens drei Monate vorher, darüber gesprochen wird aber schon seit einem halben Jahr. Die Abschlussarbeit kommt nicht unvorhergesehen. Sie steht am Ende jeder Unikarriere und jedes auch noch so modularisierten Studiengangs.

Die eigenen Ansprüche am Ende der Studienlaufbahn sind zunächst übertrieben hoch. Mit einer Abschlussarbeit möchte der Student die Welt verbessern, das Rad neu erfinden und sich selbst verwirklichen – eintauchen in die Welt der Wissenschaft. Eine Abschlussarbeit wird als Meisterwerk, als Lebensprojekt und geistige Glanzleistung betrachtet. Sie soll nicht nur einen Mehrwert schaffen, sondern Expertise ausstrahlen. Sie möge nicht nur wissenschaftlich fundiert, sondern auch kreativ, stilsicher und sprachlich anspruchsvoll sein.

Also legt er los, der Student im letzten Semester. Er reserviert seinen Stammplatz in der Bibliothek, radelt dann aber nach einer halben Stunde doch wieder Heim, weil er merkt, dass er müde ist. Es ist die Phase, in der man unentwegt von einem schlechten Gewissen geprägt ist, keine wöchentlichen Deadlines einhalten muss, in der man nie fertig wird und in der man von einer Sekunde auf die andere in einen Zustand der absoluten Demotivation fallen kann.

Die Zeit, in der man so viel machen müsste, und die Zeit, in der man dann doch lieber feiern geht. Es ist das Semester, in dem man sich in der Mensa mit seinen Kommilitonen über vorgemerkte Bücher und Sprechstundentermine unterhält und das Semester, in dem Druck auf einem lastet, weil der Banknachbar bereits eine halbe Seite mehr geschrieben hat als man selbst.

Das neue Leben

Der Student hängt ein bisschen so rum, recherchiert, liest Texte und weiß hinterher nicht, was darin steht, lässt sich durch vorbei fliegende Vögel ablenken, lädt unglaublich viel Geld auf seine Mensakarte, packt nach zwei Stunden zusammen, weil das schöne Wetter nach draußen lockt. Man bastelt täglich neu am Titelblatt der Arbeit, scrollt sich alle halbe Stunde durch seinen bereits geschriebenen Text, checkt dann aber lieber bei Facebook, ob die Freunde vielleicht gerade etwas Besseres zu bieten haben.

Man hat weder Rhythmus noch Struktur, vergisst, ob heute Sonntag, Dienstag oder Freitag ist. Man macht sich darüber Gedanken, ob man gerade nicht lieber zehn Klausuren, statt einer Abschlussarbeit schreiben würde oder ob man das Thema nicht doch wieder ändern soll. Man haut in die Tasten, kürzt, fasst zusammen, entfernt, verwirft.

Denken findet nicht mehr in Stunden und Tagen, sondern in Seitenzahlen und Kapiteln statt. Es werden Zeitpläne entworfen, Post-its geklebt und die Wochen bis zur Abgabe gezählt. Jedes Alltagsgespräch wird auf verborgene Theorien, die eventuell zur Arbeit hinzugefügt werden können, anlaysiert.

Eine Abschlussarbeit entwickelt sich langsam aber sicher zur wichtigsten Bezugsperson, zum vertrauensvollen Freund, zum eigenen Baby. Man denkt an sie, wenn man einschläft, wenn man träumt, wenn man betrunken nach Hause läuft und wenn man versucht, sich mit Fensterputzen abzulenken. Man erzählt seinen Prof davon, seinem Betreuer, der Bäckereifachverkäuferin.

Man möchte die Eltern, den Partner und die Bibliothekarin an seiner engen Beziehung zur Abschlussarbeit teilhaben lassen, ihnen dieses eine wichtige Schaubild erläutern oder ihre Satzstellung verbessern. Gerade gelernte Tastenkombinationen oder neue Word-Kenntnisse kristallisieren sich als persönliches Highlight des Tages heraus; ein verzogenes Inhaltsverzeichnis kann schnell zum Auslöser eines unkontrollierten Heulkrampfs – ein Zitat zur Lebenseinstellung – werden.

Die heiße Phase

Der Abgabetermin der Abschlussarbeit rückt näher und der zeitliche Druck steigt ins Unermessliche. Studenten mutieren dann zu Einsiedlern, die den ganzen Tag in der grauen Jogginghose verbringen, und die nur noch jeden dritten Tag ihre Haare waschen. Sie schließen sich in ihr Kämmerlein ein, verwüsten den Fußboden mit Büchern, Literaturlisten und losen Blättern.

Sie stellen jeglichen sozialen Kontakt ein, schalten ihr Handy auf stumm und wünschen keinen unangekündigten Besuch. Sie nehmen die Post für die ganze Nachbarschaft an, weil sie die Einzigen sind, die den ganzen Tag in der Wohnung verbringen. Sie schlafen mal nachts, mal in der früh, mal gar nicht. Sie stapeln Energy-Drinks und dreckiges Geschirr in der Küche, horten Unmengen von Pfandflaschen und leere Pizzaschachteln hinter dem Sofa.

Sie bewegen sich vom Bett zum Schreibtisch und vom Schreibtisch zum Bett. Es wird zehnmal am Tag Kaffee gekocht und nebenbei werden drei Packungen Zigaretten oder Schokolade verbraucht. Der Student läuft Gefahr, den Geburtstag des besten Freundes zu vergessen, und die Notwendigkeit, mal wieder einzukaufen. Die angehenden Absolventen googeln Kommaregeln und Synonyme, schauen in alten Unterlagen nach, ob das Abbildungsverzeichnis vor oder nach den eigentlichen Text gestellt wird.

Sie durchforsten ihre Facebook-Freundeslisten nach Leuten, die ihnen plötzlich wieder nützlich sein könnten, melden sich mal wieder bei der Germanistik-Studentin, die sie im ersten Semester kennen gelernt haben und die den Theorieteil vielleicht ein fünftes Mal Korrektur lesen sollte. Und sie tun dies alles nur, weil sie nicht schon vor zehn Semestern gewusst haben, dass die Abschlussarbeit in zwei Wochen gedruckt sein muss?

Alles hat ein Ende

Befasst man sich mit der Abschlussarbeit versteht man langsam, was man da die ganzen letzten Jahre studiert hat, erkennt vielleicht Zusammenhänge zwischen all den Theorien, leiht wahrscheinlich das erste Mal ein wissenschaftliches Journal aus. Man setzt sich mit Literaturverwaltungssytemen auseinander und fragt sich, wie man die letzten Jahre eigentlich ohne freigeschalteten Bibliotheksausweis studieren konnte.

Das Schöne ist: Man ist nicht allein. Allein, in dem geistigen Zustand, der mit einem Standby-Modus zu vergleichen ist. Jeder wird in seiner Unikarriere mit einer Abschlussarbeit konfrontiert und macht sich über Plagiatsrisiken, vergrößerte Zeilenabstände und den fehlenden roten Faden Gedanken. Ein jeder Student befindet sich mal in dem Schwebezustand, in dem er kein Feedback für seine Arbeit erhält und in der er so diszipliniert am Ball bleiben muss – ohne zu wissen, was eigentlich danach kommt. Es ist die Phase, die wie ein alter Kaugummi am Schuh kleben bleibt und die sich bis ins Äußerste hinzieht, aber jeden Moment zu reißen droht.

Eine Abschlussarbeit sollte nicht auf die leichte Schulter genommen werden, allerdings darf das Verhältnis zu ihr nicht zu innig werden. Schon unzählige Generationen haben Hypothesen aufgestellt, empirische Fragen entworfen, Zitate kopiert und die Studie am Ende doch noch so hingebogen, dass sie irgendwie zur eigenen Kernaussage passt.

Man sollte nur nicht vergessen, dass es eine Zeit nach der Abschlussarbeit geben wird. Eine Zeit, in der man kein Student mehr ist und wahrscheinlich eine Zeit, in der manche wissenschaftliche Theorien oder abstrakte Kausalzusammenhänge auch nicht weiter helfen. Die Abschlussarbeit ist der krönende Ausklang eines Studiums. Sie signalisiert das Ende der Studienzeit und sollte deshalb auch als schönste Phase, in der man noch mal die Freiheit hat, seine Zeit selbst einzuteilen, ausgekostet werden. Eine Abschlussarbeit ist weitaus mehr als „nur noch” – sie ist kein Lebenswerk und auch kein Ding der Unmöglichkeit. Und auch sie wird ihr Ende haben.

(Text: Christina Hubmann)

Christina H.

Christina wollte eigentlich mal Busfahrer werden, ehe sie sich entschloss, doch "irgendwas mit Medien" zu machen. Schreiben tut sie nämlich schon immer gern. Und wie das Leben ohne dieses Internet funktioniert hat, fragt sie sich schon seit Längerem - erfolglos.

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