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Das Glück einer Verschnaufspause

Mobilität ist ein entscheidender Fortschritt der letzten Jahrzehnte. Was wir dabei gewonnen und vielleicht verloren haben, ist im Takt der Transportmittel zweitrangig. Ist das berechtigt – oder nicht?[divide]

Mobilität“Wie lange hast du gebraucht?”, fragte die Eine. “Nur etwa eine Stunde, hatte gute Verbindungen”, sagte der Andere und zündete sich vor Arbeitsbeginn eine Zigarette an. Sein neugeborener Sohn hatte diese Nacht durchgeschlafen und er hatte den Wecker nicht überhört. Er schaffte die frühere Schnellbahn zum Berliner Alexanderplatz. Normalerweise sah die Eine ihn erst hastig um fünf nach Neun im Türrahmen erscheinen. Sie hob dann nur eine Augenbraue und redete weiter in die Hörermuschel. Termine mussten vereinbart oder verschoben, das Restaurant für den Besuch aus dem Ausland reserviert werden. Der Andere blies an diesem kalten Novembermorgen den Rauch der eigenen Zigarette in die Luft.

Morgenstunden haben es an sich, Menschen in ihren empfindlicheren Seiten zu zeigen: genervte Gesichter im Stau, verschlafene Augen in der U-Bahn, gestresste Stimmen an unzähligen Thresen von Bäckereien. Niemand mag seine lieb gewonnenen und verinnerlichten Tagesabläufe von einer Umleitung wegen Bauarbeiten durcheinander bringen lassen. Die Uhr tickt, die Räder rollen, Gleise knirschen, Flugzeuge starten. Minute für Minute. Da will sich noch einer wundern, wieso alles so schnell geht.

Die Eine drückt ihre Zigarette aus und geht rein, der frisch gebackene Familienvater sieht sich die Sonne zwischen Wolken und Berliner Straßenbild an. Ein klein wenig Zeit hat er sich ergattern können, als er den Wecker beim ersten Klingeln hörte.

Er findet es gut, so schnell von einem Ort zum anderen zu kommen. Mit der Schnellbahn zur Arbeit, mit dem Wagen ins Grüne, mit dem Flieger zum Strand. Er weiß auch gar nicht, wie es anders gehen soll. Schließlich soll er pünktlich an Ort und Stelle sein und ein Freizeitprogramm darf er sich auch gönnen. Dass er damit Einiges an Ressourcen verbraucht, die Umwelt belastet und noch dazu seinem Selbst nicht die Möglichkeit gibt, alles zu Fuß im Hier und Jetzt in Harmonie mit Mutter Erde zu erleben, braucht ihm niemand zu erzählen.

Es wäre zu viel gesagt, dass es ihm einerlei ist. Aber er hat nur ein Leben, nur eine Zeit.

Anna L.

Anna Luther schreibt seit Februar 2015 bei backview.eu und interessiert sich für gesellschaftliche, kulturelle und politische Thematiken. Sie studiert in Wien Publizistik- und Kommunikationswissenschaft und Philosophie.

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