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Lass sie nicht enden, diese Nacht

Es gibt wenige Momente, in denen einem alles so egal ist. In denen man noch so viel zu sagen hätte, es aber nicht schafft. Und deshalb die Zeit vorbeiziehen lässt, einfach so. Das sind diese Nächte, die endlich sind. Und doch nie vorbeigehen sollten.

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Es ist kalt geworden. Ich war noch nicht darauf eingestellt, ziehe meine viel zu dünne Jacke zusammen, drücke meine Arme noch enger an meine Brust. Es ist Herbst geworden. Der Herbst kommt immer so plötzlich.

Eigentlich wollte ich nicht mehr aus dem Haus gehen, eigentlich sollte ich es nicht tun. In ein paar Stunden steht er an, der große Umzug. Ich werde das Land verlassen, zumindest mittelfristig. Der Flieger wird mich morgen Abend nach Kanada bringen, weit weg von hier. Eigentlich sollte ich bereits schlafen.

Doch irgendwas treibt mich noch hinaus in die dunkle Nacht. Erst spät nach Mitternacht erscheine ich auf einer Feier, auf der komisches Zeug geraucht wird. Es herrscht eine ausgelassene Stimmung, der Flur ist voller Zigarettenqualm, auf den Regalen stehen halbvolle Cuba-Libre-Gläser mit abgekauten Strohhälmen.

Daneben liegen traurig zerrissene Cocktailschirmchen. Typische WG-Party in einem heruntergekommen Haus, versiffte Wände, dämliche Sprüche auf Kühlschrank-Magneten, Bierkästen in der Ecke. Wie das halt so ist. Wie das so ist, an den Abenden, an denen man nichts geplant hatte und unnötig weggeht.

Im Hintergrund läuft Alicia Keys, eine Horde angetrunkener Mädels singt mit und kichert
beschämt, als sie merkt, dass ihre Stimmen an den hohen Stellen versagen. Ich schaue mich um, finde mich damit ab, trinke aus einem herumstehenden Glas den restlichen Rum aus und geselle mich in eine Gruppe herumstehender junger gutaussehender Leute. Er ist auch da.

Ich weiß, dass er mich beobachtet und ich weiß, dass er mein Kleid entzückend findet, weil er mir das schön öfter gesagt hat. Eine Umarmung zur Begrüßung, ein lustiger Satz zum Einstieg und alles scheint wie immer. Er lacht über meine Witze, wir haben den gleichen Humor. Wir gehen rüber ins Eck und trinken ein Bier. Wir wissen, was alles zwischen uns steht und wissen, dass wir uns nicht für immer und ewig auf dieser Smalltalk-Ebene unterhalten können. Aber wir haben das gemeinsame Sprechen verlernt.

Irgendjemand schaltet die Musik aus, das Kreischen der Mädels findet ein Ende. Gitarrenklänge. Alle Gäste scharen sich in den winzig kleinen Raum, umarmen sich und schauen sich kitschig in die Augen. „Wonderwall“, der Klassiker. Auch ich kann mich nicht zurückhalten. Wie ein einziges Lied so ein unglaubliches unbeschwertes Zusammengehörigkeitsgefühl auslösen kann. Es folgt Wiederholung Zwei und Drei, dann Robbie Williams‘ „Angels“ – wie kann er nur. Betrunkene prosten sich zu, hinten in der Ecke knutscht ein Pärchen, alles andere scheint für einen Moment egal zu sein. Alles scheint so weit weg zu sein.

Stunden später. Er ist immer noch da. Sonst sehr wenige, die meisten Leute verabschiedeten sich, um sich im Club ums Eck den Rest zu geben. Ich befinde mich in einer merkwürdigen Stimmung zwischen Melancholie und Euphorie, könnte lachen und heulen zugleich. Das muss wohl am Rum liegen, denke ich mir und nehme noch einen Schluck. Das hier soll einfach nicht vorbeigehen. Ab morgen wird sich alles ändern. Nicht alles, aber sehr viel. Sehr viel, was mir etwas zu bedeuten scheint.

Nur noch wenige Stunden Schlaf stehen mir bevor, aber nichts treibt mich nach Hause. Die Nacht wird überleben. Er macht sich ein neues Bier auf und setzt sich zu mir. Das orangene Sitzkissen hat seine besten Jahre hinter sich. Was soll’s. Es gibt wenige Momente, in denen einem alles so egal ist. Wir starren auf den Fernseher, auf dem ein schlechter Film mit japanischen Untertiteln läuft. „Ich werde dich vermissen“, sagt er. Du sollst doch nicht lügen, denke ich mir. Ich rede irgendetwas, benebelt von wirren Gedanken, es ergibt sicherlich keinen Sinn.

Werde ich Dich je wieder sehen, überlege ich, während er irgendetwas erzählt – was sicherlich keinen Sinn ergibt. Ich werde Dich sicherlich nie wieder treffen. Wir werden uns niemals gegenseitig besuchen, der Kontakt wird abbrechen, einfach so. Das hier ist endlich. Ich nicke ihm verständnisvoll zu, seine Augen sahen gerade so aus, als würden sie Bestätigung suchen.

Einfach seine Stimme hören, auch wenn er Belangloses redet, nie wieder werde ich es tun. Einfach neben ihm sitzen und das Leben an uns ganz unvernünftig vorbeiziehen lassen. Das soll es hiermit gewesen sein. Mich überschwappt ein Gefühl der Angst, ich hätte ihm doch so viel zu sagen, wenn ich nur könnte. Lass sie nicht enden, diese Nacht. Lass sie niemals enden.

Wir gehen nach draußen, es regnet in Strömen. Wir laufen durch Pfützen und das Regenwasser spritzt bis ans Knie hoch. Wir laufen ganz schnell, auch wenn wir nicht wissen, wohin. Auf der Brücke bleibe ich stehen – er auch – und blicke auf die leeren Gleise unter mir. Dort hinten wird es schon wieder langsam hell, ich meine, so etwas wie einen blauen Himmel zu erahnen. Wie schön. Lass sie nicht enden, diese Nacht. Lass sie niemals enden.

Es geht nicht fort, dieses Gefühl von Endlichkeit. Ich schaffe es nicht, zu sagen, was ich denke. Blicke auf die Uhr und zähle die wenigen Stunden, die mir noch dafür bleiben. Es geht nicht. Es würde keinem weiterhelfen. Und doch wünsche ich mir, dass diese eine Nacht nie endet.

„Findest du nicht auch, dass der Herbst immer so plötzlich kommt?“, frage ich.

(Text: Christina Hubmann / Foto:  Milan Stephan by jugendfotos.de)

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Christina H.

Christina wollte eigentlich mal Busfahrer werden, ehe sie sich entschloss, doch "irgendwas mit Medien" zu machen. Schreiben tut sie nämlich schon immer gern. Und wie das Leben ohne dieses Internet funktioniert hat, fragt sie sich schon seit Längerem - erfolglos.

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