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Israel: Krieg im Kopf

Eine Journalistenreise nach Israel soll die Vielfalt des Landes zeigen. Wellness, Natur, Großstadtleben. Doch was machen die Gefühle?[divide]

Tel Aviv. Das warme Wasser des Mittelmeers streift die Haut. Am Strand spielen kleine Kinder mit Sandförmchen und junge Paare mit perfekten Körpern Matkot, eine Art Beachball. Sie genießen die letzten Sonnenstrahlen dieses 37 Grad heißen Tages. Wunderschön sind die Menschen, das Meer, das Ambiente. Hinter uns die Skyline.

Tel Aviv. Es ist ein Sommerabend, wie er schöner nicht sein könnte. Aber es fühlt sich nicht so an. Die Gedanken sind nicht hier, in der einzigen westlichen Metropole der arabischen Halbinsel, wo Schwule am Strand knutschen, Frauen ihr Bikini-Oberteil ablegen und eine Bar Cocktails am Strand serviert. Die Gedanken sind 70 Kilometer entfernt von hier, wo im gleichen Wasser Familien baden, die bei der Operation Protective Edge im vergangenen Jahr ihre Angehörigen, Häuser, Zukunft verloren haben.

Tel Aviv Skyline
Skyline von Tel Aviv

Gaza. So versteckt, so präsent

Nein, die Unbeschwertheit vergangener Tage am Meer, die ist nicht da. Es fühlt sich bedrückend an. Der Krieg, es gibt ihn, seit ich denken kann. Die verlässliche Konstante in den Nachrichten von Kindesbeinen an. Er war doch immer weit weg.

Tel Aviv, so gegensätzlich. Food und Fashion, Nightlife und Lifestyle. Eine Stadt, die nie ruht. Vom Strand ins Restaurant in die Bar in den Club an den Strand. Die Menschen sind jung, schön und freundlich. Paare Mitte 20 schieben Kinderwagen. So viele Kinder, so viel Zukunft. Sie sprechen einen an, erzählen von den Hotspots. Sie sind stolz auf diese Stadt, die sich nicht wie Israel anfühlt. Zumindest nicht wie das Israel in meinem Kopf. „Peace to the world“ steht an einer Hausmauer geschrieben. Ja, denke ich. Es könnte so einfach sein.

Nazareth. Fast bin ich überrascht, dass dieser Ort tatsächlich existiert. Religion ist mir fremd und unheimlich, was ich nicht sehe, kann ich nicht verstehen, kann ich nicht glauben. Nazareth liegt irgendwo zwischen Jesus, Gott und Erzengel. Ein Stück Realismus im Surrealen. Es ist ein Ort meiner Kindheit. Jesus von Nazareth – wie Pippi Langstrumpf, Mila Superstar und Hänsel und Gretel. Nur dass es die Villa Kunterbunt und das Pfefferkuchenhaus nicht gibt.

Nazareth. Die größte arabische Siedlung innerhalb Israels. Armut. Händler verkaufen vor der Verkündigungskirche Granatapfelsaft und Jesus-Sandalen aus Kamel-Leder. Wir stehen vor dem Eingang der Höhle, in der Maria, Josef und Jesus einst gelebt haben sollen. Reste von Josefs Werkstatt sind sichtbar. Es fasziniert mich. Ein bisschen wie ein reales Disneyland.

See Genezareth. Schon die Aussicht aus den Bergen lässt mich merkwürdig fühlen. Es fühlt sich ein wenig an wie Liebeskummer. Nicht so doller Liebeskummer, eher die Angst davor. Vom Auto aus schweift der Blick über den See, über den Jesu einst gegangen sein soll, hinüber zu den Golanhöhen. Bis vor 50 Jahren Syrien, seit 1968 von Israel besetzt. Unsere Reiseführerin erwähnt sie nicht. Sie zeigt nach rechts, auch dort Gebirge. Die Grenze zu Jordanien. Davor ein leeres Tal. Das war einst der Jordan.

Sonnenuntergang am Seegenezareth
Sonnenuntergang am Seegenezareth

Angriffe auf Israel

Kibbuz En Gev. Bis zum Libanonkrieg 1968 schossen Syrer vom Berg aus auf die Israelis, die im Kibbuz, eingeklemmt zwischen See und Höhen, lebten. Anders als in Tel Aviv, wo ich Gaza nur im Herzen gesehen habe, sehe ich die Golanhöhen vor mir. Sie sind die wunderschöne Kulisse dieses einzigartigen Landschaftszugs, der geprägt ist von den religiösen Konflikten der Nachbarstaaten. Auf ein Haus ist eine Friedenstaube gemalt.

See Genezareth. Wir treffen uns zum nächtlichen Baden am Strand. Das Wasser ist warm, es fühlt sich nach Badewanne an. Zwei Stunden liegen wir so im See, in der Finsternis. Am Westufer leuchten die Lichter von Tiberias. Am Himmel leuchten die Sterne. 30 Kilometer weiter sterben Kinder. Dort, direkt hinter den Bergen, passiert eine der größten Menschheitskatastrophen meiner Zeit. Ich höre Syrien nicht. Ich sehe es nicht. Aber ich sehe die Grenze, die Frieden und ein Leben in Freiheit von Krieg und einem Leben mit dem Tod trennen. Ich weine.

Jordan – Zeichen des Konflikts

Westjordanland. Auf der Fahrt ans Tote Meer passieren wir die israelisch-palästinensische Grenze. Wir folgen dem Grenzzaun, der dem Jordan folgt. Beziehungsweise dem, was vom Jordan noch übrig ist. Bisweilen hat er nicht einmal die Bezeichnung Bach verdient. Es sind die sichtbaren Folgen eines seit Jahrzehnte währenden Konfliktes. Israelis wie Jordanier bedienen sich am Wasser des Flusses, ohne Rücksicht. Bevor die anderen es abschöpfen, schöpfen wir. Das Flussbett ist ausgetrocknet. Die Grenzen von einst sind deutlich sichtbar. Nichts weiter als Sand und Stein. Es ist ein Trauerspiel.

Westjordanland. Aussteigen auf eigene Gefahr, „hier können Mienen liegen“, sagt die Reiseführerin. Sie ist vom israelischen Tourismusbüro, sie soll uns die schönen Seiten Israels zeigen. Das Westjordanland gehört nicht dazu. Als wir ein paar Meter am Grenzzaun entlanggehen, fährt ein Panzer an uns vorbei. Was ein Klischee, denke ich.

Totes Meer. Es macht mich wütend, unglaublich wütend. Ich möchte schreien: „Sehr ihr nicht, was ihr anrichtet?“ Ich verstehe nicht, warum sich Jordanien und Israel nicht immerhin jetzt einigen, wo die Konsequenzen ihrer Politik so offensichtlich zu sehen sind. Der Meeresspiegel des Toten Meeres sinkt jedes Jahr um etwa einen Meter, weil der Jordan kein Wasser mehr ins Meer führt. Eigentlich gibt es zwei Tote Meere, denn eine Sandbank liegt inzwischen frei. Da die Israelis ihre Wellness-Hotels im Südteil gebaut haben, der Jordan aber im Norden ins Tote Meer fließt, haben sie einen künstlichen Kanal durch die Sandbank gebaut. Er pumpt das Wasser in den Süden, wo der Meeresspiegel gleich bleibt.

Totes Meer. „Hier nicht langgehen“, steht am Wegesrand geschrieben, „Einsturzgefahr“. Einst war die Hotelanlage im Nordteil am Ufer gebaut, nun müssen sie ihre Gäste einen Kilometer weit transportieren, damit sie baden können. Der Boden besteht komplett aus Salz, hin und wieder bilden sich Löcher, die Erde, Salz und Menschen verschwinden lassen. Eine Kraterlandschaft.

“Go in Peace”

Wadi. Neben dem Meer die Wüste. Ali, ein Beduine, fährt uns in einem Jeep durch Stein und Sand. Die Steine, erzählt er, seien aus Salz. Einst ging das Meer bis hierhin. Kilometer weit weg vom heutigen Ufer. Wir krabbeln in eine kühle Höhle und lecken an der Decke. Sie schmeckt salzig. Ali zeigt uns Steinschichten, die man essen kann. Wir lernen, welche Pflanzen man essen kann und welche sich als Seife nutzen lassen. Ali sagt, er könne bis zu vier Tage ohne Wasser in der Wüste überleben. Wir keine zwei Stunden. Ali ist in der Wüste groß geworden, er kennt jeden Stein. Heute dürfen die Beduinen nicht mehr als Nomaden durch die Wüsten ziehen, die Kinder haben Schulpflicht.

Totes Meer. Das ist sie also, die unbeschwerte, freie Seite Israels. Der Ort, an dem der Kopf eine Pause bekommt von den vielen Gedanken, weil er mit Bildern geflutet wird. Eine Masse an Erlebnissen, an Augenblicken und Ausblicken. Nach der Wüste das Meer. Floating. Das Wasser ist so heiß, dass ich zurückschrecke. Bis zu den Knien gehe ich ins Wasser, dann ist der Auftrieb so stark, dass ich nur noch treiben kann. Im Meer stehen Duschen, falls man Wasser ins Gesicht bekommt. Als wir gehen, weist uns ein Schild den Weg:

„Go in Peace“

Die Geschichte von Masada

Masada. Das Thermometer zeigt deutlich über 40 Grad an. Für den Schatten. Schatten gibt es hier nicht. Wir wandern auf einer Festung herum, die 60 Jahr nach Jesu Tod durch Herodes entstanden ist. Israel, das ist nicht nur Religion, das ist auch Geschichte. Wobei der Zusammenhang von Geschichte und Religion wohl nirgendwo so deutlich sichtbar ist wie hier. Mich fasziniert das Wissen der Menschen von damals. Auf Masada gibt es ein funktionierendes Wassersystem, es gab Speisekammern, Badewannen und eine Sauna. Als die Römer im Judäischen Krieg Jerusalem einnahmen, flüchteten sich 960 Juden auf den Berg, der zwar 400 Meter über dem Meeresspiegel des Toten Meers liegt, damit aber nur Normalnull erreicht. Drei Jahre ließen die Römer die Juden gewähren, dann machten sie sich auf den Weg. Sie fanden 960 Leichen. Lieber frei sterben als gefangen zu leben.

Masada. Ein Kind mit einem Maschinengewehr läuft an mir vorbei. Keiner stört sich daran. Klassenausflüge in Israel sind nur mit Gewehrschutz erlaubt. Das Mädchen ist höchstens 14. Hoffentlich, denke ich, weiß sie, was sie tut.

En Gedi. Eine Oase inmitten der Steinwüste. Wohin schauen? Auf die rötlichen Berge? Auf die Steinböcke und Klippschliefer, die neben uns herlaufen? Auf die Wüstenmäuse, Chamäleons und Eidechsen, die zwischen uns rennen? Wir folgen dem Fluss zu Wasserfällen. Mit schweißnasser Kleidung stellen wir uns unter den Wasserfall.

Palästinenser versus Israelis – ein merkwürdiges Miteinander

Westjordanland. Die Orte sind arabisch, die Hauptstraßen werden von Israel kontrolliert. Wir passieren israelische Siedlungen, Betonbauten, Hochhäuser. Auf der anderen Seite die Wellblechhütten und Zelte der arabischen Beduinen. Ob die Araber nach Israel fahren dürfen, fragt eine Mitreisende. „Nein“, sagt die Reiseführerin, „aber ich darf ja auch nicht nach Jericho.“ Es ist ein merkwürdiges Selbstverständnis. Die israelische Regierung erlaubt den eigenen Landsleuten die Einreise in palästinensische Städte nicht – wegen möglicher Entführungen. Im Gegensatz zu den Palästinensern können Israelis aber das Land verlassen. Die Palästinenser leben in einem großen Freiluft-Gefängnis, und ich bin zu Besuch. Wer wir seien, fragen die Grenzbeamten kurz vor Jerusalem.

Jerusalem. So muss es damals gewesen sein, in Berlin, vor 30 Jahren. Jerusalem wird von einer Mauer im Osten geschützt. Damit keiner aus dem Westjordanland in die – international nicht anerkannte – israelische Hauptstadt flüchtet. Die Eindrücke, es sind zu viele, um sie zu verarbeiten. Wir überlegen, warum das Spiel „Reise nach Jerusalem“ heißt.

Jerusalem. Du Sonderbare. Die Altstadt ist voller Touristen wie du und ich. Rucksack, Kamera, Selfie-Stick. Doch dann, ganz plötzlich, werden aus den Touristen Gläubige. In der Grabeskirche, einer Kirche über den Orten, an denen Jesus gekreuzigt, gestorben, begraben und auferstanden sein soll, brechen sie hysterisch zusammen. Sie küssen einen Stein. Sie werfen Tüten auf einen anderen Stein. Sie weinen, schreien, flehen, beten. Sie machen mir Angst. Was ist aus den Menschen geworden, die eben nach mir die Kirche betraten? Was macht Religion? Die Grenze von Emotionalität zu Hysterie, sie verläuft durch diese Kirche.

Jerusalem. Du Sonderbare. Um an die Klagemauer zu kommen, passieren wir einen Sicherheitscheck. Hier sind es die Juden, die weinen, flehen, beten, kleine Wunschzettel schreiben. Männer und Frauen strikt getrennt. Junge Mädchen stehen in ihrer Einheitskleidung vor der Wand, eben spielten sie noch, lachten, rannten durch die Straße. Nun weinen sie eine Wand an. Wir sind nur ein paar Meter gegangen. Was macht Religion? Die Grenze von Wunsch und Wirklichkeit, sie verläuft entlang dieser Mauer.

Jerusalem. Du Sonderbare. Direkt neben der Klagemauer ist der Aufgang zum Tempelberg. In zwei einstündigen Zeitintervallen dürfen auch Nicht-Muslime auf den Berg, der von Juden wie Moslems als Heilige Stätte angesehen wird. Wir warten, die angegebene Einlasszeit ist schon seit Minuten vorbei. Es geht los. Sicherheitscheck. Sicherheitscheck. Sicherheitscheck. Eine aus der Gruppe muss ihre Kerzen abgeben. Symbole des Christentums dürfen nicht auf den Tempelberg. Sie packt ihre Kerzen wieder ein und geht. Sicherheitscheck. Eine aus unserer Gruppe wird zurückgehalten. Sie hat eine Weste über ihr Top gezogen. Ganz leicht könne man aber ihre Haut durch sehen, wenn man genau hinsehe, sagt der Wachmann. Unsere Reiseführerin diskutiert. Drei Wachmänner diskutieren miteinander. Einer sagt, sie könne so nicht auf den Berg. Zwei sagen, es sei in Ordnung. Unsere Reiseführerin zieht uns weiter. Niemand reagiert. Was macht Religion? Die Grenze zwischen Ordnung und Willkür, sie verläuft am Tempelberg.

Der schwere Gang Jesu

Jerusalem. Du Sonderbare. Unten am Tempelberg beginnt der Kreuzigungsweg. Menschen leihen sich große Holzkreuze und tragen sie zu sechst, acht, zehnt durch die Gassen, durch jene, durch die Jesu einst gegangen sein soll. Sie teilen sich die Gasse mit den Touristen, die bei den Händlern Weihrauch und Kerzen kaufen. Und den Soldaten, die hier patrouillieren. Sie lassen sich mit Touristen fotografieren. Dazwischen heulende Christen, die gerade die Stelle erreicht haben, an der Jesu einst gestolpert sein soll. An einer Wand soll er sich abgestützt haben. Die Wand ist eingedrückt, weil sie sich dagegen stemmen. Was macht Religion? Ich habe das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ich gehe. Während ich durchs arabische Viertel Richtung Hotel schlendere und frisches Obst kaufe, denke ich darüber nach, spätestens jetzt aus der Kirche auszutreten, hätte ich es nicht längst getan.

Jerusalem. Licht-Illustrations-Show am David Tower. Die Geschichte Jerusalems. Am Ende fliegen projizierte Friedenstauben über die Altstadtmauer. Ich möchte schreien, es macht mich so wütend. Für Frieden, für den ehrlichen Versuch, denke ich, braucht es mehr als ein paar Peace-Schilder an jeder Ecke. Es ist so heuchlerisch.

Jerusalem. Sechs Millionen tote Juden. Yad Vashem. Im Children’s Memorial brennen fünf Kerzen, hunderte Spiegel reflektieren das Licht zu einem wunderschönen Sternenhimmel. Aus den Lautsprechern Namen. Namen und Alter von jenen 1,5 Millionen Kinder, die ihr Leben im Holocaust ließen. Ich weine. Wie in Trance durch die Ausstellung. Hitlers Machtergreifung. Juden in Europa. Reichspogromnacht. Brennende Synagogen, brennende Bücher. Ich laufe über im Boden eingelassene verbrannte Schuhe und meine Beine geben nach. Hunger, Elend, Misshandlung, wohin das Auge reicht. Kein Zentimeter der Fläche ist frei. Warschau. Lodz. Theresienstadt. In Auschwitz halte ich es nicht mehr aus. Zum Abschluss ein Video: Menschenberge, Leichenberge, wie sie bei der Befreiung zur Seite gekarrt werden. Was haben wir gelernt?

Jerusalem, ach, Jerusalem.

Schüsse, Messerstiche, tote Kinder.

Ach Jerusalem.

Hast du nichts gelernt?

(Text und Bilder: Miriam Keilbach)

Miriam K.

Miriam war 2007 im Gründungsteam von backview.eu. Sie volontierte beim Weser-Kurier in Bremen und arbeitet seit 2012 als Redakteurin bei der Frankfurter Rundschau. Ihre Themen: Menschen, Gesellschaft, Soziales, Skandinavien und Sport.

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