GesellschaftMeinungen

Hilfe, meine Nerven

„Geh bitte!“. Kurz und doch prägnant fast der Österreicher die Weltsituation zusammen.
Wir sind genervt. Bereits der bekannteste Grießgramm der Antike Diogenes von Sinope entgegnete Alexander dem Großen, als dieser ihn nach seinen Wünschen fragte: „Geh bitte. Geh mir einfach aus der Sonne.“[divide]

Jetzt kommen die nervösen Tage

Das gesamte Leben ist eine reine Nervensache im wahrsten Sinne des Wortes. Die meisten Organismen bestehen aus unterschiedlichsten Nervensystemen. Sei es von der Mücke bis zum Elefanten, wir nerven uns und Nerven nerven uns. Man unterscheidet zwischen dem peripheren und dem vegetativen Nervensystem. Während wir ersteres willentlich steuern und weitgehend kontrollieren können, reguliert sich das vegetative Nervensystem von ganz alleine.
Wir haben keine Kontrolle über diesen Teil des Körpers, wie über so vieles im Leben.

Termine, Zeitdruck und eine immer größere Flexibilität um ihrer selbst Willen setzen die Menschheit unter Strom, fast bis zum Kurzschluss. Sei es an einer Bushaltestelle oder im Supermarkt an der Kasse zu warten, jede ungenutzte Minute lässt so manchen auf dem Schlauch stehen. Stets muss jede Minute produktiv verbracht werden. Ohne Strom, ohne Energie funktioniert nichts in unserer hochtechnologisierten Leistungsgesellschaft. Dies würdigt auch die Wissenschaft und bezeichnet dies als Eustress, positiven Stress, der Sinnesorgane stimuliert und fördert. Aber wie soll der stetig höhere Energiebedarf gedeckt werden, wenn wir uns die Energie für die täglichen Aufgaben der modernen Welt selber rauben.

Ein Blick in die Krankheitsstatistiken der Industrienationen genügt: Psychische Erkrankungen wie Burn-Out und Depression häufen sich und zählen mittlerweile zu den Hauptgründen für Krankschreibungen. Im Schnitt sorgen psychische Erkrankungen für Arbeitsausfälle von bis zu 70 Arbeitstagen. Zeitgleich sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen die häufigste Todesursache.

All dies steht symbolisch für eine Welt, deren Kreislauf aus den Fugen geraten ist.
„Früher hatten wir kein Brot aber Zeit. Heute haben wir genug Brot aber keine Zeit mehr“, lamentierte einst der französische Philosoph Henri Lefebvre. Die Nervenfaden eines Menschen würde bis zum Mond reichen. Spulen wir also den roten Faden der Geschichte zurück, zurück in die Zeit, als die Welt nervös wurde.

Nun habe ich den Faden verloren

Es ging ein Licht auf und die Welt stand unter Strom. Es ist nicht selbstverständlich, das Licht, Energie jederzeit zur Verfügung steht. Bis in die frühe Neuzeit hinein gingen sogar die Uhren anders. Jede Stadt, jedes Dorf hat eine eigene Zeitzone, wobei Zeit auch eher relativ war. Den Tagesrhythmus bestimmte die Sonne. Kirchturmuhren dienten höchstens als grobe Orientierung.

KoerperEine Vereinheitlichung der Zeit wurde höchste Eisenbahn als die ersten Gleise verlegt wurden. Die Industrialisierung und der damit verbundene technische Fortschritt machten es nötig zu vereinfachen und zu standardisieren. Erst seit 1893 gilt mit dem „Gesetz betreffend die Einführung einer einheitlichen Zeitbestimmung“ in Deutschland die Mitteleuropäsche Zeit, oder anders gesagt die Zeiger deuteten auf eine Zeitenwende. Dampfschiffe überquerten den Atlantik, Eisenbahnen verbanden die Welt fast binnen 80 Tagen, wie es der zeitgenössische Autor Jules Verne in seinem Roman darstellte.
Die Menschheit schritt fort, wurde mobil und modern.„Wo sind all die Leute? Wo sind se hin? Ich will auch gar nicht wissen, wo ihr seid ich hab Zivilisationsmüdigkeit“, singt Rainald Grebe.

Die Menschheit entdeckte die Möglichkeiten. Bald gehörte „Neurasthenie“ als Modekrankheit ähnlich dem Burn-Out zum gehobenen Ton einer gehobenen Schicht. 1880 hatte der New Yorker Arzt George M. Beard das Symptom der Nervenschwäche als Reaktion auf den „Modernisierungsschock“ definiert. Dabei verstand man hierunter weniger eine Krankheit sondern vielmehr eine Funktionsstörung, wobei die Nerven durch die wachsenden geistigen und körperlichen Anforderungen der modernen Lebenswelt überfordert waren. Das „Zeitalter der Nervosität“ war angebrochen wie es der Historiker Joachim Radkau ausdrückt.

„Wer ist heute nicht neurasthenisch?”. Diese Frage des Psychiaters Carl Pelman im Jahre 1900 ist wohl heute aktueller den je. Damals begann sich ein Netz aus wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Verflechtungen um die Welt zu spannen.
Mittlerweile steht die Welt nicht mehr nur unter Strom, sie steht unter Hochspannung. Hochfrequenzhandel beispielsweise ermöglicht es Computern binnen Mikrosekunden unzählige Transaktionen zu vollziehen. Alles wird digitalisiert und die Welt scheint an der Glasfaser zu hängen. Alles hängt am Internet. Je schneller desto bester, real, digital völlig egal.

In allen diesen Möglichkeiten der neuen digitalen Welt wird es immer schwieriger sich zu konzentrieren, Nerven zu bewahren. Alles wird immer unsichtbarer. „Man sieht es nicht man schmeckt es nicht man weiß es nicht“. Der Nerv unserer Zeit, von griechisch neuron für Faden, eine immer schnellere immer flexiblere Welt, doch in Zeiten von Grenzenlosigkeit scheint die Menschheit den Faden verloren zu haben. Alte Sicherheiten sind verschwunden, neue nicht abzusehen. Diese Unsicherheit macht nervös und beunruhigt viele.

Es ist zum leise schreien

„Ich weiß nicht, was soll es bedeuten.“ Deutschland ist nicht nur das Land der Dichter und Denker, sondern auch der Richter und Stänker. Deutschland empfindet sich selbst als ein unzufriedenes, getriebenes Volk. Motzen, Meckern, Stänkern, Deutsche sind Experten darin viel Lärm um nichts zu machen. Immer wieder ist in den Nachrichten von Ruhestörung zu hören, sei es gegen Autos spielende Kinder, Sportvereine oder Kulturveranstaltungen. Allein in München gibt es jedes Jahr über 16.000 Klagen wegen Ruhestörung aus den unterschiedlichsten Gründen.

KopfSchon 1908 nahm sich der deutsche Antilärmverein diesen Geräuschen an, klagte gegen Lärmbelästigung vor allem von Seiten der Mitmenschen. Dabei ging es weniger um Geräusch an sich, sondern vielmehr um den vermeintlichen Sittenverfall der Störenfriede aufzuzeigen. Dabei ist Lärm per se kein Geräusch sondern eine Kategorie, die je nach Gesellschaft unterschiedlich empfunden wird. Lärm ist ein Recht das man sich nehmen muss, es geht darum wer in einem sozialen Zusammenleben den Ton angibt.

„Die heutige Jugend ist von Grund auf verdorben, sie ist böse, gottlos und faul. Sie wird niemals so sein wie die Jugend vorher, und es wird ihr niemals gelingen, unsere Kultur zu erhalten“
steht schon auf einer Babylonischen Tontafel um 1000 v. Chr.

Ältere Menschen sind davon genervt, wie jüngere sich benehmen und verhalten. Jüngere Menschen sind davon genervt, das ältere Menschen in der Vergangenheit leben und die Welt von heute nicht mehr verstehen. Aber der klassische Generationenkonflikt klingt heute eher nach einem intergenerationalen Schweigen. Man redet nicht mehr miteinander, sondern nur mehr übereinander. Whatsapp, Facebook, Twitter, „die Kommunikationsmöglichkeiten nehmen zu, die Kommunikationsfähigkeit nimmt ab, wie der Schweizer Philosoph Markus Wild bedauert“. „Jetzt wo Kommunikation einfacher wäre denn je, haben wir uns nichts mehr zu sagen“, ergänzt der österreichische Dirigent Bernhard Steiner.

Das Leben ist eine Nervensache

Diese Debatte kann einem auf die Nerven gehen. Eine Welt, die den Faden verloren hat, welche bisher selbstverständliches in Frage stellt, liegt vor uns. Wir sind genervt davon uns immer wieder aufs Neue die Frage danach zu stellen, wer wir sind, was wir wollen und wohin wir gehen. Die Antwort bringt die Zeit, sie braucht Zeit. Zeit ist Geduld, Geduld braucht Nerven. Der „Verein zur Verzögerung der Zeit“ setzt sich aktiv dafür ein, sich diese zu nehmen. Viele Widersprüche arm gegen reich, jung gegen alt, Vergangenheit gegen Zukunft prägen unsere Gegenwart. Es mag schwer sein, nervös machen, sie auf unbekanntes, gegensätzliches einzulassen. Aber Nervensysteme sind elektrische Impulse, Elektrizität entsteht nur über die Spannung gegensätzlicher Pole.

Wir leben in einer nervösen Gesellschaft am Rande eines Nervenumbruchs. Die Nerven liegen blank, die Welt nervt uns, doch genau das ist es was uns antreibt, was uns Energie gibt.
Was die Zukunft bringt ist unklar. Nur eines steht sicher fest, sie wird anders als gedacht. Wir stehen also permanent unter Stress, der Spannung auf was da kommen mag. Schließlich baumeln wir doch alle am seidenen Faden, die Frage ist nur, wer die Fäden in der Hand hat. Leben ist eine reine Nervensache, es gilt daher die Nerven zu behalten, oder anders gesagt:

Stephan R.

Stephan interessiert sich für Warum und die Welt: Seit 2014 gehe ich für backview.eu scheinbar alltäglichen Dingen auf den Grund, betrachte warum manches so ist wie es ist. Wenn ich nicht gerade an einer neuen Idee für einen Artikel sitze, beschäftige ich mich gerne mit Fotographie oder Fremdsprachen oder widme mich meinen Politikstudium.

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