Moritz Neumeier ist kein Schiller, kein Goethe. Der Poetry Slammer aus Schleswig-Holstein ist längst nicht mehr den strikten Regeln der Weimarer Klassik unterworfen, sondern kann seine Gedichte und Texte völlig frei gestalten. Und begeistert mit Ernst und Zynismus sein Publikum.
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Wenn der 24-Jährige die Slam-Bühnen Deutschlands betritt, dann wird es still. Die Zuschauer lauschen interessiert, während einige Ausgewählte fieberhaft überlegen, mit welcher Punktzahl sie den jungen Literaten bewerten sollen. Er rechnet mit seiner Familie ab, oder mit einer Welt, in der alle nach einem festgelegtem Schema leben. Neumeier berührt im einen Moment und lässt sein Publikum im anderen Moment in Lachen ausbrechen. Seine Texte lassen sich nicht einfach in ein Genre einordnen.
Der Norddeutsche begann bereits als Jugendlicher, Texte zu verfassen. Als
sein Vater schließlich in der Zeitung las, dass es eine Bühne gebe, wo Leute eigene Texte vorlesen könnten, die anschließend bewertet würden, wagte er den Schritt zum Poetry Slam. “Ich bin einfach auf gut Glück hingefahren und habe mitgemacht und bin innerhalb kürzester Zeit süchtig geworden.” Schon bald holte Björn Högsdal, Poetry Slam-Moderator, ihn ins Boot. “Dies gab mir die Möglichkeit, schneller als gedacht davon zu leben.”
Bei einem Poetry Slam wird zunächst eine beliebige Anzahl von Zuschauern mit einem Bewertungssystem ausgestattet. Die Skala geht von eins bis zehn. Nach dem Aufritt jedes Poetry Slammers darf das Publikum entscheiden, wie gut ihnen der Text gefallen hat. So wird mit jedem weiteren Autoren verfahren, der auftritt. Wer am Ende die höchste Punktzahl hat, gewinnt meistens einen kleinen Sachpreis.
Ob man reimen oder rappen möchte, von Politik oder Liebeskummer erzählt: Beim Poetry Slam ist alles erlaubt. Hauptsache, die Art und Weise, seinen Text vorzutragen, ist originell und kein bloßes Ablesen. “Wir performen. Das ist das Wichtigste. Man liest bei uns nicht die Zeilen eines uralten Toten, sondern sieht einen Text auf einer Bühne. Und natürlich sind unsere Themen, unsere Sprache und unser Inhalt der heutigen Zeit und Welt angepasst”, erzählt Neumeier.
Es geht nicht mehr um Punktzahlen
Seinen Stil beschreibt er als “Mischung aus ernster Lyrik und fiesestem Zynismus”. “Die Grenzen bei diesem sind so weit vorgerückt, das den meisten meine Witze schon wehtun. Ich glaube ich gehe manchmal weiter, als man es allgemein auf einer Bühne tut”, erzählt Neumeier.
Das beste Beispiel für seinen Zynismus ist wohl sein Text “Kaufhaus”, indem Sätze fallen wie: “Ich hasse Kaufhäuser, die lassen aber auch wirklich jeden rein“. Dann nimmt der 24-Jährige auch gerne mal alte Frauen auf die Schippe, die behaupten, sie seien damals “alle im Widerstand” gewesen und sorgt für einige Lacher, wenn er die Stimme eines total verständnisvollen Trendsetters imitiert.
Doch auch, wenn die neue Art, Literatur zu teilen, auf den ersten Blick dank Publikumsentscheiden und festen Zeitlimits für den Vortrag sehr gerecht aussieht, kann manch ein Umstand kritisiert werden. Schließlich lassen sich Zuschauer leicht von einer lustigen Performance oder einem witzigen Text zu hohen Punktzahlen hinreißen. Dann bleibt ein ernster Text, der qualitativ sehr viel hochwertiger war, teilweise unbeachtet. Moritz Neumeier bleibt in solchen Fällen gelassen: “Von ,Die haben das einfach nicht verstanden‘ bis hin zu ,Perlen vor die Säue‘ war bei mir schon alles dabei.”
Ihm gehe es längst nicht mehr darum, die höchste Punktzahl zu erreichen. “Manche schreiben Text und tragen diese vor, um möglichst viele Punkte zu erreichen. Aber den meisten etablierten Slammern geht es mehr um den Spaß. Die Punkte werden sowieso schnell egal, weil man merkt, dass sie bei jeder Veranstaltung anders ausfallen und einzelnes Lob höher steht als eine gute Punktzahl.”
Poetry Slam als moderne, interaktive Literatur
Der Poetry Slam ermöglicht nicht nur, sich auf unterschliedlichste Weise mit Worten, Gestik und Mimik zu inszenieren. Er stellt zudem eine völlig neue Art dar, Literatur zu produzieren. Autoren können anhand von Auflagezahlen und Rezensionen ablesen, wie hoch ihr Buch in der Gunst steht. Moritz Neumeier hingegen spricht mit seinen Zuschauern, sieht die unterschiedlichen Bewertungen, die er für seine Texte bekommt.
Er agiert hautnah mit seinem Publikum und baut in den drei bis fünf Minuten, die ihm zur Verfügung stehen, ein viel spannenderes Verhältnis zu den verschiedenen Meinungen auf, als es ein Autor je in einer Lesung vermögen würde. Dem jungen Dichter hilft die sofortige Reaktion seiner Zuhörer ungemein. “Mein Stil entwickelt sich erst auf der Bühne. Wenn man zu Hause etwas schreibt, kann man es noch so toll finden, ohne die Antwort eines Publikums weiß man nie, wie der Text wirklich funktioniert.”
Diese Form interaktiver Lyrik, die sich irgendwo zwischen Melancholie und Comedy bewegt, lässt hoffen, dass sich endlich eine breitere Masse für literarische Texte begeistern kann. Schließlich hat diese neue Form der Literatur längst nichts mehr von verstaubten Büchern des 18. Jahrhunderts. Poetry Slam vermag zweierlei: zu unterhalten und sein Publikum reflektieren zu lassen.
(Text: Ronja Heintzsch, Foto: Zeno F. Pensky – schoenefotowelt.de by jugendfotos.de)