EuropaPolitik

„Eine Kolonne Aufständischer marschiert zum Kreml”

Kurze, bunte Kleider, bunte Strumpfhosen, bunte Skimützen. Sie marschieren zum Kreml. Sie erklimmen die roten Mauern. Die Rede ist von Pussy Riot. Vergangenen Freitag wurden drei der Musikerinnen zu zwei Jahren Haft wegen Rowdytums aus religiösem Hass verurteilt. Steht Russland vor dem Kollaps oder vor der Diktatur?


 

Nadja, Mascha und Katja sitzen hinter einer Glasscheibe. Sie sitzen in einem Käfig – wie Tiere. Jeden Tag müssen die drei Mitglieder der Punkband Pussy Riot Marathonsitzungen in einem Käfig aus Glas ertragen. Die Haftbedingungen werden mehrfach kritisiert. Mascha muss nach einem Schwächeanfall während des Prozesses von Ärzten behandelt werden: Die Frauen schlafen wenig, sitzen stundelang im Glaskasten und Mascha kann sich als Vegetarierin in der Haft nicht angemessen ernähren.

Ein Blick zurück zum Kreml: 21. Februar 2012, Christ-Erlöser-Kathedrale, Moskau. Pussy Riot stürmen die orthodoxe Kathedrale. Sie dringen in den heiligen Altarraum ein und singen ein Punk-Gebet, in dem sie die Mutter Gottes anflehen, Russland von Putin zu befreien.

Den drei Frauen wird Rowdytum aus religiösem Hass vorgeworfen. Darauf können in Russland bis zu sieben Jahren stehen. Am Rande der Olympischen Spiele in London äußert sich Russlands Präsident, Wladimir Putin, zum Prozess: Die Frauen sollen nicht zu hart bestraft werden, sie hätten ihre Lektion bereits gelernt. Vergangene Woche wurden die drei Mitglieder der Punkgruppe dann zu je zwei Jahren Haft verurteilt.

Kreml in Moskau - RusslandWeltweite Unterstützungsaktionen

Der Moskau-Korrespondent des Spiegels, Benjamin Bidder, hält dagegen die Ikonisierung der drei Frauen für übertrieben. Pussy Riot seien nicht Putins „größter politischer Kopfschmerz”, wie der Guardian schrieb. Indes entwickelte sich im In- und Ausland eine gewaltige Solidaritätsbewegung. Madonna betrat bei einem Konzert in Moskau mit Skimütze und dem Schriftzug „Pussy Riot” auf dem Rücken die Bühne und forderte die Freilassung der drei Musikerinnen, viele Künstler taten es ihr gleich.

In vielen europäischen Städten, darunter Berlin, fanden Solidaritätskundgebungen statt. Mag sein, dass Madonna gerade auf Tournee ist und die Öffentlichkeit ihr gut tut, es mag auch sein, dass die extreme Solidarität doch allzu romantisch wirkt, und es mag auch sein, dass der Guardian vielleicht ein bisschen übertreibt, denn die drei Frauen werden Putin kaum stürzen können.

Dennoch: So romantisch und so kommerziell die ein oder andere Solidaritätsbekundung auch ist, bezweckt sie vor allem eins: Aufmerksamkeit. Und zwar erreicht der Prozess wohl die größte Aufmerksamkeit seit dem Fall Chodorkowski und zwingt den Westen endlich hinzuschauen.

Aus dem Kreml: ein Staat mit starkem Oberhaupt

Der Prozess gegen die Gruppe ist ein Sinnbild für die politische Lage im Land. Das Land, das laut Verfassung eine Demokratie ist, aber so schon seit spätestens 2004 nicht mehr bezeichnet werden dürfte – eher als Autokratie oder als autokratisches System auf dem Weg zur kompletten Diktatur.

Der Prozess zeigt eben jene Punkte auf, die Russland von einer Demokratie abgrenzen: Klar es gibt eine demokratische Verfassung, demokratische Institutionen, regelmäßige Wahlen. Es fehlt jedoch vor allem an der Rechtstaatlichkeit, an Meinungs- und Demonstrationsfreiheit. Die demokratischen Institutionen sind da, aber schwach, sie werden beherrscht von einem Präsidenten, der allmächtig über allen Regimentern steht und jede Gewaltenteilung unmöglich macht.

Es ist auch klar, wo dieser Prozess entschieden wurde, mit Sicherheit nicht im Gerichtssaal. Die Verfolgung und Verurteilung unschuldiger Oppositionelle ist in Russland nicht erst seit diesem Jahr eine Methode, einen immer autoritäreren Staat aufzubauen.

Sicherlich ist die Protestaktion der Musikgruppe umstritten und provokant. Ihnen jedoch religiösen Hass zu unterstellen, ist gar lächerlich. Meinungsfreiheit und Freiheit von Kunst sind Grundwerte jeder Demokratie. Und, einerseits, war die Aktion von Pussy Riot auch nicht mehr als eine politische Kunstaktion. Und doch war sie, andererseits, viel mehr – so tragisch das Schicksal der drei Frauen ist – eine Bildung von modernen Ikonen. Ikonen des Protests, des Feminismus, der Rebellion.

Pussy Riot: Der Auftritt vor Gericht

Als Nadja vom Gefangenenbus zum Gerichtssaal geführt wird, trägt sie ein blaues „no pasaran”-Shirt und reckt die geballte Faust in die Luft. Das Bild geht um die Welt und wird zum Sinnbild, nicht nur für Pussy Riot, es wird zum Sinnbild für die gesamte russische Protestbewegung. Nadja ist hübsch, das hilft, um Aufmerksamkeit zu bekommen.

Mit einem harten Vorgehen gegen die Musikerinnen von Pussy Riot will Wladimir Putin ein Exempel statuieren. Doch dabei vergisst er vielleicht eins: Russland ist kein voll-totalitäres System. Es gibt eine Opposition, es gibt Wahlen, auch, wenn diese nicht fair und gleich sind, und es gibt – wenn auch sehr wenige – kritische Medien.

Die Chance auf Wandel besteht in einer Autokratie immer, vor allem, wenn der Druck aus dem Land selbst durch die Opposition und gleichzeitig vom Ausland kommt. Und genau das haben Pussy Riot geschafft. Die Verurteilung wird die Opposition zu weiterem Protest und vielleicht auch zu radikalerem Protest verleiten lassen. Die drei jungen und hübschen Frauen, die in Revision gehen wollen, werden im Ausland auch weiter faszinieren.

Ob sie Putins größter Fehler sind, ist vielleicht übertrieben und klingt nach westlichem Sechziger-Jahre-Idealismus. Aber vielleicht haben die Künstlerinnen auch den richtigen Stein aus der Wand gezogen, den das System zum Einsturz bringen wird. Denn das ist die einzige Chance Russlands auf Demokratie: „Die Abtreibung des Systems”.
Nun sicher, sie werden Putin wahrscheinlich nicht stürzen, nicht heute und auch nicht morgen. Aber vielleicht übermorgen.

(Text: Miriam Gräf / Foto: Lisa Zörrer by pixelio.com)

Miriam G.

Wenn Miriam nicht gerade durch Russland reist, dann schreibt sie darüber. Ansonsten erzählt sie noch gerne von der großen Liebe oder schreibt Hassreden gegen Schokonikoläuse. Miriam ist freie Journalistin für verschiedene Online Medien, darunter generationanders.com und to4ka-treff. Seit 2013 ist sie Mentee im Mentorenprogramm der Jugenpresse und Jungejournalisten.de

Schreibe einen Kommentar