Medien

Blind durch den Nachrichten-Dschungel

24 Stunden überstehen, ohne Nachrichten mitzubekommen, dass dürfte doch nicht so schwer sein – dachte ich. Ich darf mir mal einen Tag lang keine Zeitung kaufen oder die Tagesschau im Fernsehen sehen. Das ist machbar – dachte ich. Doch in Wahrheit ist es schwieriger, als man es sich vorstellt – ein Selbstversuch für back view.

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Ted Mosby aus der Serie „How I met your mother“ hatte einmal eine clevere Idee, um das Ergebnis des Superbowls nicht mitzubekommen. Der Ausgang des amerikanischen Sportgroßereignis wurde medial überall verbreitet, aber Mosby baute sich ein Gerät aus einer verklebten Brille, die den Blick nach allen Seiten abschirmte bis auf zwei kleine Löcher zur Orientierung. Dazu trug er große Kopfhörer, die alle Geräusche absorbieren sollten. So einen „Sensorischen Deprimator 5000“ hätte ich auch gerne für meinen Selbstversuch gehabt, denn es ist gar nicht so leicht, sämtlichen Nachrichten aus dem Weg zu gehen.

Die Nachrichten-“Falle” Internet

Die erste Hürde muss ich am Morgen beim Hochfahren des Rechners nehmen. Die Homepage einer großen Tageszeitung, die Startseite in meinem Standardbrowser ist, muss ich umgehen. Mist! Aus Gewohnheit doch geöffnet! Also schnell wieder schließen und den anderen unpersonalisierten Browser nutzen.

Aber schon geht’s weiter: An so einem Tag ist es eher störend als hilfreich, Medien-Newsletter abonniert zu haben. Deshalb sitze ich, während sich mein Mailprogramm öffnet, mit zugekniffenen Augen da, nur um die Nachricht dieses Absenders möglichst rasch in irgendeinen anderen Ordner zu verschieben. Dafür wäre so ein “Sensorischer Deprimator 5000” wieder einmal nicht schlecht. So, geschafft! Jetzt muss ich morgen nur nachsehen, in welchem Ordner das Zeug gelandet ist. Weiter geht’s!

Darf ich Facebook checken? Ich würde mal sagen ja. Zum Glück schlafen die meisten Menschen in meiner Liste noch oder sind auf der Arbeit. Und abgesehen von Musikvideos und „Ich hasse Montage“/ „Es ist so früh am Morgen“- Postings gibt’s im Westen nichts Neues. Das Radio birgt für mich zum Glück keine Gefahr, da ich kaum Radio höre – nur zum Abspülen. Das steht heute aber nicht auf dem Plan, also ein Problem weniger.

Der Risikofaktor Außenwelt

Soviel zu den Gefahren, die allein in meinen paar Quadratmetern lauern. Doch wie gefährlich ist diese Welt da draußen erst, wo es Zeitungskiosks mit Aufstellern davor, schwatzende Menschen im Bus und andere unkontrollierbare Risikofaktoren gibt. Ein portables smartes Telefon, das mir Neuigkeiten aufdrängen möchte, besitze ich schon mal nicht, zumindest ein Lichtblick.

Ich beschließe, bereits im Treppenhaus und auf dem ganzen Weg zur Uni (wie sonst allerdings eigentlich auch) Musik zu hören. Meine In-Ear-Kopfhörer dichten schließlich fast so gut ab wie der Sensorische Deprimator. Denn wie oft merke ich, dass mich jemand an der Bushaltestelle etwas fragt, nur daran, dass ich gut im Lippenlesen bin.

Also nehme ich mir vor, einen weiten Bogen um Kioske jeder Art und diese neumodischen digitalen Nachrichtentafeln zu machen und auf jeden Fall alle Menschen abzuwürgen, die ihre Sätze mit „Hast du schon gehört…“ oder „Hast du mitgekriegt, dass…“ beginnen, inklusive Mitbewohner zu Hause. Dann dürfte ja eigentlich nichts mehr schief gehen.

In der Uni nehme ich erst kurz vorm Vorlesungssaal die Ohrstöpsel ab. Da die Studenten von heute, so hat es den Anschein, nicht informiert sind oder zumindest nicht den Drang haben, das aktuelle Tagesgeschehen zu artikulieren, höre ich im Hörsaal auch keine Nachrichten „mit”. Auch in der Mensa sind sämtliche unserer Sitznachbarn eher an der Nahrungsaufnahme als am Austausch aktueller Nachrichten interessiert. Gut für mich.

Ein Tag ohne Tagesschau

In meinen eigenen vier Wänden bin ich – mittlerweile geübt im Umgang mit dem informationsfreien Internet – wieder sicher vor der Nachrichtenbeschallung. Abgesehen von einer Ausnahme. Es heißt ja, man merkt immer erst, welche Automatismen sich im eigenen Leben entwickelt haben, wenn man diese radikal umschmeißt. So fiel mein Blick – wie konnte es anders sein – um Punkt 20 Uhr auf die Uhranzeige meines Rechners, woraufhin meine Hand automatisch die Musik beenden und die andere schon nach der Fernbedienung greifen wollte.

Ach ne, ich darf ja nicht. Das alternative Vorabendprogramm (ich habe es nur mal zur Untermauerung meiner These herausgesucht, anschalten würde ich es nicht) lockt mich nicht hinter dem Ofen hervor. Zeitgleich um 20 Uhr könnte man sich antun: „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“, „Galileo“, „Achtung, Kontrolle! Einsatz für die Ordnungshüter”, „Prominent!“ oder „Fang des Lebens – Der gefährlichste Job Alaskas“. Nein, danke böses Privatfernsehen, pfui!

Und ich muss sagen, an dieser Stelle beginne ich, mich ein wenig unwohl zu fühlen. Selbst, wenn der Tag noch nicht beendet war, ist das mein persönlicher Knackpunkt. Okay, ein Tag ohne online nach Nachrichten zu suchen – machbar. Oder diese auf meiner Startseite präsentiert zu kommen – erfordert schon einiges Geschick-, aber ist in Ordnung. Aber um acht Uhr Tagesschau gucken wollen, aber nicht dürfen. Das ist doch der obligatorische, appetitliche Nachrichtenhappen des Tages, den ich mir so lange mühsam angewöhnt habe, nicht mehr zu verpassen. Das ist schon schwierig.

Später ertappe ich mich beim Durchzappen noch dabei, dass ich kurz bei „heute“ verweilen möchte. Das wäre eine Alternative, aber auch das darf ich heute nicht sehen. Ich fühle mich uninformiert und habe langsam das Gefühl, ich könnte ja etwas Wichtiges verpasst haben. Zumindest bin ich mir am Ende des Tages durch meinen Selbstversuch ziemlich sicher, dass mir morgen ein kleines Lächeln der Erleichterung über die Lippen huschen wird, wenn ich die magischen Worte höre: „Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit der Tagesschau.“ Nachrichten, ihr habt mir gefehlt!

(Text und Foto: Julia Radgen)

back view stellt sich 24 Stunden lang besonderen Herausforderungen
Einen ganzen Tag ohne Internet
Einen ganzen Tag mit einem Schweigegelübte
Einen ganzen Tag vor dem Fernseher
Einen ganzen Tag im selben Vorlesungssaal
Einen ganzen Tag mit einem Videospiel
Einen ganzen Tag Sport

 

Julia R.

Julia lebt in Mainz und schreibt am liebsten über Kultur- und Gesellschaftsthemen - und interessante Menschen. Sie ist Social Media-süchtig und verzichtet nur freiwillig auf Internet und Handy, wenn sie zu einem Festival fährt. Wenn sie groß ist, will Julia mal Journalistin werden.

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