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Wir sind das Volk – doch wer sind „wir“ genau?

Jeden Montag das gleiche Ritual. Einige tausend Menschen spazieren durch Dresden und skandieren: „Wir sind das Volk“. Doch wer sind „wir“, „das Volk“, in dessen Namen sie vorgeben zu sprechen.[divide]

„Wir hatten schon lange ein ungutes Gefühl.“ Viele der Protestierenden, die zum ersten Mal an einer PEGIDA Demonstration teilnahmen, gaben dies als ihren Beweggrund an. Angefangen von einer kleinen Facebookgruppe um die Initiatoren Lutz Bachmann und Kathrin Oertel entwickelte sich eine Bewegung, die auf ihrem Höhepunkt bis zu 15.000 Menschen in Dresden versammeln konnte.

Pegida und AfD

PEGIDA entstand aus den Montagswachen, welche gegen die Einsätze der Bundeswehr im Irak und Syrien demonstrierten. Am Anfang stand die Missmutsbekundung gegenüber den „Glaubens- und Stellvertreterkriege“, welche immer mehr auf deutschem Boden ausgetragen und damit den inneren Frieden gefährden würden. Das Land verändere sich schnell, dennoch würde das eigene Volk kaum gefragt, ob es diesen Wandel überhaupt wolle, äußern sich viele Teilnehmer der PEGIDA-Märsche.

In diesem Sinne postuliert die Bewegung für sich „parteipolitisch, unabhängig und nicht an Konfessionen gebunden die politische Wahrnehmbarkeit und die politische Verantwortung zu fördern.“ Dies soll durch Gedankenaustausch der Bürger geschehen in Diskussionen, Weiterbildungen und nicht zuletzt durch Veranstaltungen wie die „Spaziergänge“ jeden Montag.

Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes?

Wieder erschütterte ein Anschlag Europa. Radikalität und verblendete Ideologie überall auf der Welt fordern täglich unzählige unschuldige Opfer. Täglich sind unsere Nachrichten voll von Meldungen über Gewalttaten und Verbrechen in der islamischen Welt. Täglich machen sich mehr Menschen auf den Weg nach Europa, weg aus diesem Kulturkreis – bringen aber ihre Kultur in unseren Kulturkreis. PEGIDA spricht sich deutlich gegen eine sogenannte „Islamisierung des Abendlandes“ aus.

Doch ist es wirklich der Islam allein, der die Menschen eint, auf die Straße zu gehen? Ein Blick auf die „Dresdner Thesen“, das Programm der PEGIDA-Bewegung, gibt Aufschluss.

Zum einen wird der „Schutz und respektvolle Umgang mit der eigenen Kultur und Sprache“ betont. Zum anderen wird eine faire und schnelle Bearbeitung von Asylanträgen unterstrichen, die wirklich Schutzbedürftigen Asyl gewähren solle. Jegliche Form von Radikalisierung, sei sie politischer oder religiöser Art, wird deutlich abgelehnt.

PEGIDA ist das Produkt einer nervösen Gesellschaft

Wieder brennen dennoch Asylbewerberheime insbesondere in Ostdeutschland. Rechtsradikale und Fremdenhass sind bis heute ein Problem in manchen Teilen Deutschlands, insbesondere in strukturschwachen Regionen. Der Zusammenhang zwischen geringen Bildungsabschluss, geringer Lebensqualität und Perspektivlosigkeit für die Radikalisierung werden jährlich durch die „Mitte Studien“ der Universität Leipzig thematisiert.

Folgt man jedoch den Ergebnissen der Studien der Universitäten Dresden und Berlin, so verwundert die Struktur der Teilnehmer. Nicht Menschen mit geringen Bildungsabschluss sondern die untere bis mittlere Mittelschicht scheint auf die Straße zu gehen. Es konnte in Umfragen gezeigt werden, dass die Teilnehmer häufiger als der Durchschnitt der Gesamtbevölkerung über einen Universitätsabschluss verfügten. Viele der Teilnehmer sind Angestellte, Freiberufler und Selbständige mit einem durchschnittlichen bis gehobenen Gehalt.

Zwar seien diese Studien nur wenig repräsentativ aufgrund der geringen Teilnahmebereitschaft vieler Demonstranten, doch machten sie deutlich, dass sich diese Gruppe von PEGIDA angezogen fühlt, wie Werner Patzelt von der Universität Dresden hervorhebt.

„Ich fürchte mich sehr davor, dass es den folgenden Generationen in Deutschland eher schlechter gehen wird.“

Dieser Aussage stimmen über 80 Prozent der von Patzelt befragten Demonstranten zu. Noch mehr Zustimmung erhielt nur die Furcht vor einem Verlust der nationalen Identität und Kultur.

Wir sind das Volk – und wir wollen was?

Globalisierung und Abbau des Sozialstaates haben Deutschland über die letzen Jahre verändert. Alte Erwartungshaltungen und Verlässlichkeiten sind zunehmenden Unsicherheiten und Ungleichheiten gewichen. Neue globale Herausforderungen machen an Deutschland nicht halt, die Angst vor dem eigenen sozialen Abstieg scheint zu drohen. Die Migrationsströme nach Europa sind hier nur ein Beispiel von vielen. „ So sehr man sich auch bemüht man trampelt immer auf der Stelle“, wie Oliver Nachtwey von der Technischen Universität Darmstadt unterstreicht.

Politische Ohnmacht gegenüber diesen Veränderungen scheint sich auszubreiten. Misstrauen in das politische System ist Ausdruck dieser Entwicklung. Über 90 Prozent der Befragten auf beiden Seiten, sowohl Gegner als auch Unterstützer, befürworten Demokratie als das beste Regierungssystem. Sie sind aber mehrheitlich mit der Umsetzung in Deutschland unzufrieden; scheint die etablierte Politik doch keine Lösungen zu bieten.

„PEGIDA ist ein Phänomen einer nervösen Gesellschaft, in der die alten Erwartungshaltungen verschwinden und die neuen noch unsicher sind“, wie Nachtwey weiter ausführt.

Die Partei hatte mal Recht – die neue Parteilandschaft

Diese Nervosität und Unsicherheit sind der ideale Nährboden für Radikalisierungen. Hatten die Parteien früher immer Recht, wählte doch der Arbeiter sozialdemokratisch und das Bürgertum christdemokratisch, brechen die klassischen Parteibindungen nun auseinander. „Wer Merkel will, muss Grün wählen“, kann hier als Beispiel dienen.

Parteien nähern sich immer weiter in die Mitte, wie der Parteienforscher Elmar Wiesendahl konstatiert. Auf diese Weise wird das Parteiensystem als alternativlos gesehen, wie Manfred Güllner, Geschäftsführer des Forsa Instituts, anmerkt. Es scheint beliebig zu sein, welche Partei man wähle, die eigene Stimme würde immer mehr entwertet.

Wer geht heute eigentlich noch wählen?

Deutlich wird dies an der Wahlbeteiligung. Seit 1970 ist der Anteil der großen Parteien SPD und CDU an der Gesamtheit der Wahlbevölkerung von 70,6 Prozent auf 37,6 Prozent gefallen. Im gleichen Zeitraum stieg der Anteil der Nichtwähler auf über 43 Prozent. Als solche wäre die Partei der Nichtwähler aus dem Stand die stärkste Kraft im Bundestag. Nicht die Demokratie per se wird abgelehnt, sondern Kritik und Unmut an deren Umsetzung halten diese Gruppe von den Urnen fern.

Fast 80 Prozent der Nichtwähler in Sachsen- Anhalt sahen ihre eigenen Interessen nicht vertreten, würden diese doch als Eliteparteien nur noch die Interessen einiger weniger Politiker vertreten. 70 Prozent waren mit der Politik im allgemeinen zu unzufrieden, um am demokratischen Prozess teilzunehmen. Als solche sind Nichtwähler Wähler im Wartestand, die sich mobilisieren ließen, würde die etablierte Politik ihnen wieder mehr Gehör schenken und Alternativen für die Wähler aufzeigen, wie Studien der Forsa Gruppe zeigen.

Der AfD als selbst bezeichnende „Alternative für Deutschland“ scheint genau dies gelungen zu sein. Die aus deren Sicht großen Erfolge haben sie vor allem einer Mobilisierung von Nichtwählern, aber auch Wählerwanderungen durch alle Parteien zu verdanken. Im eignen Verständnis scheint sich die AfD dabei als eine „Antiparteinpartei“ zu begreifen, in der das „Volk“ den Willen den Willen der Partei wieder bestimmen solle.

Inwieweit sich „das Volk“ gesamt durch rechtsradikale Strömungen in den eigenen Reihen repräsentiert fühlt, ist jedoch fraglich. Eine Mehrheit von drei Vierteln fordern eine stärkere Distanzierung der Partei von rechtsradikalen Positionen. Nur 17 Prozent laut infratest Dimap stimmen zu, die AfD sei eine gute Alternative für alle, die sich bei den etablierten Parteien nicht aufgehoben fühlten. 64 Prozent der AfD Wähler stimmten aus Enttäuschung gegenüber den etablierten Parteien für die AfD. Ob sich die Partei langfristig als reine Protestpartei und Ein Themen Partei etablieren kann, ist daher ebenso kritisch zu fragen. „Die AfD steht auf der Links-Rechts-Skala heute da, wo 1998 noch die CDU gestanden hatte“ konstatiert Gerhard Hirscher von der Hans-Seidel-Stiftung in München. Ob dies eine neue Alternative ist, die wirklich mehr Lösungskompetenz anbietet, sei jedem selbst überlassen.

AfD, PEGIDA, was ist zu tun?

Aktuell ist die AfD in der Hälfte aller Bundesländer mit großer Sitzzahl vertreten. Weiterhin demonstrieren jeden Montag an die 3.000 in Dresden, auch wenn das mediale Interesse an PEGIDA nachgelassen hat. Die Ursachen für die Mobilisierung der PEGIDA-Bewegung bestehen weiter. PEGIDA ist kein rein ostdeutsches Phänomen, wie Oliver Deckert von der Universität Leipzig betont. Daher wäre es zu kurz gedacht, diese Bewegung einfach zu verscheuchen.

Wichtig ist es vielmehr, die Probleme dahinter zu verstehen und sich mit diesen auseinanderzusetzen, wie Werner Patzelt bekräftigt. PEGIDA ist nicht eine rein rechte Bewegung. Vielmehr ist diese ein allgemeines Sammelbecken für verschiedene Unmutsbekundungen von Rechtsextremismus, über Zuwanderungspolitik, die Sozialpolitik bis hin zur Ablehnung der GEZ-Gebühren. Allen ist jedoch eine Skepsis gegenüber der etablierten Politik gemein, die nicht mehr auf die Interessen der Bevölkerung höre. „Wir sind das Volk“ ist Ausdruck dieser Gehörlosigkeit.

Weiterhin brennen Asylbewerberheime und rechte Bewegungen gewinnen an Aufwind. Weiterhin besteht Unsicherheit und Skepsis darüber, wohin die Zukunft führt. Alte Erwartungen sind nicht mehr sicher und das was noch kommt ist unklar. Neue Herausforderungen und globale Probleme werden auch in Deutschland ihre Auswirkungen haben. Ob Eurokrise, Flüchtlingskrise oder gar Demokratiekrise, die Abgründe zwischen den verschiedenen Lagern scheinen sich zu vertiefen.

Was ist PEGIDA?

PEGIDA zu bezeichnen als „Faschistenpack“ oder „Nazis im Nadelstreifen“ greift ebenso zu kurz wie eine Glorifizierung von Pegida als eine neue basisdemokratische Bewegung für eine Alternative. Meinungsvielfalt ist wichtig um einen demokratischen Prozess am leben zu erhalten. Dies erfordert jedoch Mut zur Konfrontation, aber auch Mut zum Dialog. So fordert Michael Reder vom einzigen Lehrstuhl für Völkerverständigung in Deutschland: „ Wir brauchen mehr Streit“. Dies gilt auch gegenüber radikalen Positionen. „ Es braucht Streit und Abgrenzung von genau diesen problematischen Positionen, damit Demokratie vital ist“, hebt Reder weiter hervor.

„Demokratie ist ein System, das garantiert, dass wir nicht besser regiert werden, als wir es verdienen“, erkannte einst der irische Philosoph George Bernhard Shaw. In diesem Sinne verlangt Demokratie von jedem einzelnen sich einzubringen, kritisch zu hinterfragen, aber auch Fragen zuzulassen. „ Wir haben kein Recht auf Demokratie“, sagte einst Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Daher liegt es an allen, unsere Demokratie immer wieder neu zu gestalten, Konflikte aufzubringen und gemeinsam friedlich beizulegen. Unsicherheiten und Ausschluss schaffen einen idealen Nährboden für Radikalisierung und Extremismus. Eine Teilhabe aller am demokratischen Prozess ist unerlässlich, diesen Entwicklungen vorzubeugen. Mit den Worten des ehemaligen Bundeskanzlers Willy Brandt gilt:

„Wir wollen mehr Demokratie wagen.“

Stephan R.

Stephan interessiert sich für Warum und die Welt: Seit 2014 gehe ich für backview.eu scheinbar alltäglichen Dingen auf den Grund, betrachte warum manches so ist wie es ist. Wenn ich nicht gerade an einer neuen Idee für einen Artikel sitze, beschäftige ich mich gerne mit Fotographie oder Fremdsprachen oder widme mich meinen Politikstudium.

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