Brennpunkte

„Wenn du wegläufst, töte ich dein Kind”

Der moderne Sklavenhandel mit Frauen boomt. Allein in Deutschland leben über 80.000 verschleppte Frauen. Die Zahlen in den osteuropäischen Ländern dürften das noch bei Weitem übersteigen. Wie das sein kann, hat sich back view-Redakteurin Julia Jung gefragt.


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Ganz ehrlich: Wir leben im Jahr 2011. Für mich ist es selbstverständlich, alle Freiheiten der Welt zu haben. Ich kann studieren, ich kann reisen und ich kann meine Partner und mein Sexualleben frei bestimmen. Mir wäre nie in den Sinn gekommen, dass das anders sein könnte. Aber anscheinend können rund 350.000 Frauen davon nur träumen. Sie sind Sexsklavinnen brutaler Zuhälter.

Wie ist so etwas möglich? Wie kann es sein, dass Frauen einfach verschleppt werden und im Nichts verschwinden? Warum hilft die Polizei ihnen nicht? Was tun ihre Familien? Und warum laufen die Frauen nicht einfach weg? Ich habe mich auf die Suche nach Frauen gemacht, die diesem Schicksal ausgesetzt waren. Marias Geschichte gibt Antworten auf das unbegreifliche Verbrechen.

Versklavt für 1000 Dollar
Maria wird mit 21 Jahren verschleppt. Sie ist im fünften Monat schwanger, ihren vierjährigen Sohn hat sie bei ihrer Mutter zurückgelassen. Was heißt „verschleppt”? Ist es möglich, dass mich mitten auf der Straße maskierte Schlepper einfach in ein Auto zerren? Nein, die Kette ist viel länger. Maria kommt aus der Ukraine.

Um Arbeit zu finden, reist sie mit einem Bekannten in die Türkei. Den Bekannten hat sie zum Schutz dabei, denn sie weiß, dass es für allein reisende Frauen aus Osteuropa gefährlich werden kann. Ihr angeblicher Schutz wird ihr aber zum Verhängnis. Zlad verkauft sie an Zuhälter. Dafür bekommt er 1000 Dollar. 1000 Dollar für das Leben einer Frau? Für Zlad genug Geld.

Vergewaltigt, geschlagen und unter Drogen gesetzt
Sein schlechtes Gewissen nagt aber doch an ihm. Er erzählt Marias Mann von dem Verkauf. Der macht sich sofort auf die Suche, doch das hilft Maria nicht viel. Das Netz der Schlepper ist verworren und unüberschaubar. Maria wird weiterverkauft, ihre Spur verschwindet im Nirgendwo. Sie ist eingesperrt, nur zum „Arbeiten” darf sie raus. Ihre Zuhälter bringen sie in Hotels, wo sie sich willig zeigen muss. Was passiert, wenn sie sich weigert?

Beim ersten Mal kämpft Maria mit dem Mann, sie schreit, kratzt und beißt. Daraufhin kommen aber zwei weitere Männer in den Raum, halten sie fest, so dass der Kunde sie vergewaltigen kann. Beim nächsten Mal wird Maria geschlagen und unter Drogen gesetzt. Sie hat keine Wahl. Auf Mitleid der Kunden kann sie nicht hoffen. Sie sehen in ihr nur ein Stück Fleisch zur Befriedigung.

Läuft sie weg, stirbt ihre Familie
Warum rennt sie nicht einfach weg? Sie könnte sich eine Waffe suchen, ein Messer oder irgendeinen Gegenstand und ihre Peiniger außer Gefecht setzten. Aber selbst, wenn sie dazu in der Lage wäre, haben die Zuhälter ein viel stärkeres Druckmittel: Ihre Familie. Flieht sie, wird Marias Junge umgebracht, vermutlich auch ihr Mann. Aber warum geht sie nach der Flucht nicht einfach direkt zur Polizei? Der traut Maria nicht. Weder der türkischen, noch der ukrainischen. Und selbst wenn, die Killer würden ihre Familie finden.

Alexej will seine Frau zurückkaufen
Das Ganze hört sich an wie ein schlechter Action-Film, aber es ist Realität. Maria sitzt fest. Egal was sie tut, es wird ihr nicht helfen. Ihr Mann hat die Suche allerdings noch nicht aufgegeben. Alexej hat mittlerweile herausgefunden, an wen seine Frau weiter verkauft wurde. Er reist in die Türkei, um seine Frau zurückzukaufen. Er gibt sich selbst als Zuhälter aus und versucht den Kriminellen klar zu machen, dass Maria für sie ein Problem ist, da die Polizei nach ihr sucht. Ohne Erfolg. Alexej fährt zurück in die Ukraine mit dem Wissen, seine Frau und das ungeborene Kind nie wieder zu sehen.

Der Frauenhändler verlässt das Gericht als freier Mann
Als er daheim ankommt, steht vor ihm ein Wunder: Seine Frau. Ihre Peiniger haben sie freigelassen, Alexejs Druck hatte doch Wirkung. Ein unwahrscheinliches Happy End, bei weitem nicht die Realität. Kaum eine Sexsklavin hat das Glück befreit oder gar aus Mitleid von einem Freier freigelassen zu werden. Und falls doch, wäre sie danach mittellos, stünde auf der Straße und begäbe sich in ihrer Not oft sogar freiwillig zurück in die Prostitution.

Das bleibt Maria erspart. Nach acht Wochen als Sexsklavin ist sie wieder bei ihrer Familie, dem Sohn erzählt sie, Mama war eine Weile im Ausland arbeiten. Zu ihrem ungeborenen Baby wird sie nie etwas sagen können. Wegen der Drogen, des psychischen und sexuellen Missbrauchs muss sie im siebten Monat abtreiben. Ihren Bekannten Zlad verklagt sie, vor Gericht wird ihre Aussage jedoch nicht aufgenommen. Sie darf nicht einmal den Gerichtssaal betreten. Zlad wird zu fünf Jahren Haft verurteilt – auf Bewährung. Er verlässt das Gericht als freier Mann, draußen wartet Maria. Sie wird nie wieder frei sein können.

Auch, wenn Marias Geschichte ein paar Fragen klärt, bleibt es unvorstellbar, wie Sklaverei im modernen Stil betrieben wird. Maria hatte Glück. Tausende andere Frauen aber nicht. Sie sitzen genau jetzt in irgendwelchen Kellerlöchern und werden zum Sex gezwungen. Erschreckend, aber wahr.

(Text: Julia Jung)

Julia J.

Hauptberuflich ist Julia Weltenbummlerin, nebenberuflich studiert sie Politik. Wenn sie nicht gerade durch Australien, Neuseeland, Südafrika oder Hongkong reist, schreibt sie ein paar Zeilen für back view und das schon seit 2009.

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