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Viereckige Augen?

Früher wurde mir als Kind immer eingebläut, dass stundenlanges Fernsehen viereckige Augen macht. In der heutigen Zeit, in der man die kleinen Racker einfach vor der Schule noch vor das RTL-Morgenprogramm setzt – damit man sich nicht kümmern muss – kann von der viereckigen Augentheorie keine Rede mehr sein. Deshalb konnte sich Jerome Kirschbaum ohne größere Bedenken einem Selbsttest unterziehen: Einen Tag lang Videospiele zocken.


Top motiviert starte ich in den Tag – und werde schon ausgebremst, bevor es überhaupt richtig losgeht: ein Systemfehler. Der Freitag, als Zockertag auserkoren, wird erst mal einigermaßen verschlafen. Der Geburtstag vom vorherigen Tag steckt noch zu sehr in den Knochen. Neuer Startbeginn des Selbstversuches: zwölf Uhr mittags.
Dennoch bleibt genügend Zeit, um das waghalsige Unterfangen zu beginnen. So setze ich mich sofort nach dem Frühstück an die X-Box 360, um mich für das Pro Evolution Soccer-Turnier für den Abend warmzuspielen.
Denn in weiser Voraussicht habe ich ein paar Freunde eingeladen, damit ich nicht den gesamten Tag alleine spielen musste. Ich fühle mich in die Zeit der Abiturphase zurückversetzt, als man noch LAN-Partys am Stück feierte und sich mit Pizza, Bier und noch mehr Pizza über Wasser hielt.

Trainingseinheiten gegen den Computer

Doch der Reihe nach. Zunächst der Mittag: Mit ein paar Trainingsspielen gegen den Computer. Der Ball lief recht unrund – Manchester United und ich sind noch nicht gänzlich aneinander gewöhnt. Ich muss ja für den Abend variabler werden und darf mich nicht auf den Lieblingsklub FC Barcelona versteifen.
So verliere ich prompt das erste Spiel des Tages mit Manchester gegen Lissabon. Die folgenden Matches sind erfolgreicher, doch damit nicht genug. Im Anschluss lasse ich ein paar Trainingseinheiten im Menü „Training” folgen. Mit dem FC Barcelona übe ich das Überzahlspiel, Freistöße und Elfmeter.

Doch schon hier zeigt sich recht schnell die Krux eines solch konstruierten Zockertages: Irgendwie funktioniert das Videospielen auf Knopfdruck nicht sonderlich gut. Ich fühlte mich etwas gezwungen. Nach dem Frühstück spiele ich für gewöhnlich nicht sofort an der X-Box. Also kommt recht schnell die Erkenntnis: Ohne intrinsische Motivation macht das Ganze eigentlich keinen Sinn.

Pause in der realen Welt
Und da ich ohnehin freitags zum Fußballtraining gehe, kommt mir eine kurze Auszeit auch recht passend. Endlich in der realen Welt Fußballspielen. Nicht mehr durch Knopfdrücken zum Erfolg kommen, sondern die eigenen Beine auf dem Weg zum Torerfolg nutzen.
Zum Glück kann ich auch noch keine Folgeschäden bei mir registrieren. Ich fühle mich noch nicht an, wie von einer Software programmiert. Auch, wenn ich versuche, die Tricks von der X-Box auf den realen Fußballplatz zu übertragen – einige klappen, ein paar mehr nicht.
Nach Training, Duschen und Wundenlecken folgt dann die letzte Trainingseinheit vor dem Turnier am Abend. Ein klein wenig warmspielen, bevor es zum großen Schaulaufen kommen sollte. Für 20 Uhr haben sich drei Freunde angemeldet, eine wunderbare Konstellation für ein paar Vierer-Turniere.

Wettkampf mit Freunden am Abend
Als dann die ersten Gäste eintrudeln, soll es recht schnell zur Sache gehen. Um die Pro-Evo-Sucht zu befriedigen, verzichten wir sogar auf die andere Sucht: die Fußball-Bundesliga. Der Saisonauftakt mit dem Spiel Borussia Mönchengladbach gegen Bayern München steht an, muss sich aber eben auch an unserem Abend hinter den Videospielen und dem Selbstversuch anstellen.

Das erste Turnier verläuft für mich wenig erfolgreich. Das Los hatte mir Paris Saint-Germain beschert – ein durchaus überschaubares Schicksal. Mit vier Punkten aus den drei Spielen lande ich auf dem dritten Rang. Ich hatte mir schon mehr erhofft. Doch ich muss mich dann nun mal damit arrangieren, dass ich als Gastgeber in dieser Phase chancenlos bin.

Um 23:30 Uhr muss der erste schon wieder nach Hause gehen, was uns aber vom weiteren Zocken nicht abhalten soll. Und diesmal – beim zweiten Turnier des Abends – meint es der animierte Videospielgott besser mit mir. Der FC Barcelona darf nun von mir gesteuert werden. Es ist eine Ehre für beide, den Klub und mich.
Und als hätte diese Traumehe noch irgendeines Beweises bedurft, werde ich mit Pauken und Trompeten Erster. Ein legendäres 4:0 gegen Chelsea sichert mir den Platz an der Sonne. Auf dem Höhepunkt meines Schaffens lechze ich nach mehr. Wie ein Raubtier habe ich Blut geleckt und dürste nach neuen, weiteren Opfern.

Nach sieben Stunden folgt der Bruch

Auch als wir dann gegen 1:30 Uhr mitten in der Nacht nur noch zu zweit sind, lassen wir uns nicht beirren. Es folgen weitere hochklassige, packende Duelle. Doch ab circa 3:00 Uhr kommt dann der Knick. Die Konzentration ließ nach, sieben Stunden Dauerzocken hinterlassen ihre Spuren. Ich fühle mich ein wenig wie der schlaflose Al Pacino in Christopher Nolans Film “Insomnia”.
Die Folgen sind schlechte Spiele und eine noch schlechtere Chancenverwertung meinerseits. Das Ende der Fahnenstange ist fast erreicht. Zum Schluss lasse ich mich selbst vom Durchschnittsteam aus Istanbul düpieren. Nur das allerletzte Match um 4:00 Uhr endet dann mit einem abermaligen Sieg von mir mit dem FC Barcelona, da ist dann auch Istanbul chancenlos. Um dann etwas aus der digitalen Parallelwelt aus- und in ein anderes Universum einzutauchen, nehme ich mir vor dem Schlafen ein Buch zur Hand, Jo Nesbo rüttelte mich mit “Die Larve” wieder auf.

Von Videospielen habe ich erst mal genug. Es bleibt nach diesem Marathon die Erkenntnis, dass eine gewisse Lust zum Zocken vorhanden sein muss. Sobald Zwang im Spiel ist, funktioniert das Ganze nicht, da muss man sich schon Freunde einladen, um für Abwechslung zu sorgen. Und weiterhin habe ich wiedermal vor Augen gehalten bekommen, dass acht Stunden am Stück nicht unbedingt förderlich sind für eigene Bewegungsfähigkeit, eine gewisse Schlaflosigkeit stellt sich auch ein. Zwar werden die Augen nicht – wie es einem in Kindheitstagen das Ammenmärchen glaubhaft machen will – viereckig. Aber müde und gereizt werden sie ohne jede Frage. Die Augen genauso wie die Nerven der Zocker selbst.

(Text: Jerome Kirschbaum)

Jerome K.

Jerome schreibt am liebsten über Sport, wenn er denn nicht selbst auf einem Platz steht. Seit Oktober 2010 verdingt sich Jerome als Schreiberling für back view, neben den Leibesübungen widmet er sich sich auch politischen Themen. Im wahren Leben musste Jerome zahlreiche Semester auf Lehramt studieren, um dann schlussendlich doch etwas ganz anderes zu werden.

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