Life & Art

Verlorener Himbeergeruch

Unsere back view-Autorin ist für diesen Text in ihre tiefsten Kindheitserinnerungen hinabgetaucht und erinnert sich an die Sommer bei den Großeltern. Oma, die zu viel kocht und Opa, der zu viel Unsinn im Kopf hat – mit Kinderaugen wahrgenommene Erlebnisse.

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Wahrscheinlich waren Mama und Papa einfach nur froh, einfach mal Ruhe zu haben. Sicher lieben sie uns und so weiter. Aber mal ehrlich: Ich habe zwei Drillingsbrüder und einen zwei Jahre älteren Bruder. Das sagt doch schon alles über die nervliche Daueranspannung aus, der meine Eltern ausgesetzt sein mussten.

Ich erinnere mich nicht daran, aber nachdem Mama und Papa vier nervende Kinder, denen an Sommertagen gerne zu heiß ist, die immer Hunger haben und, die unregelmäßig pinkeln müssen nach zwei Stunden Autofahrt bei Oma und Opa abladen konnten, mussten sie wohl ein erleichtertes Gesicht gehabt haben. Meine Brüder und ich waren dann erst einmal die Sommerferien über bei Oma und Opa. Und das konnte nur Gutes heißen.

Denn dann begannen Wochen voller Sonne, frischer Luft und Spaß. Zugegeben, meine Erinnerungen mögen idealisiert sein und nicht an allen Stellen der vollen Wahrheit entsprechen, aber sagen wir einfach, dass das jetzt und hier auch nicht wichtig ist.

Aber wer würde auch schon etwas gegen die Erinnerungen an den Sommer, an Himbeeren, an den Duft von feuchtem Gras, an Versteckspielen, an Oma, die immer zu viel kocht und Opa, der zu viel Blödsinn macht, sagen? Ja, denn das fasst wohl den Sommer vieler Kinder meiner Generation zusammen. Damals als die Sommer noch Sommer waren und als die Ferien noch Ferien waren.

Sommer, in denen Opa mit uns Motorboot fuhr, fischen ging und Spielzeug selbst bastelte. Sommer, in denen Oma uns mit Essen vollstopfte und immer ein lang gezogenes „Oh Josef“ von sich gab, wenn Opa mal wieder totalen Blödsinn machte, weil er etwa Weihnachtskugeln in den Baum im Hof hing. Opa konnte mit den Ohren wackeln und mit drei Strichen ein Portrait von dir zeichnen.

Sommer, in denen wir den ganzen Tag draußen waren, Höhlen bauten und Oma einen Schwächeanfall bekam, wenn sie die schmutzige Kleidung sah. Sommer, in denen wir halb angezogen draußen spielten und frei waren und nicht an die Schule dachten. Obwohl meine Generation sowieso bis zur elften Klasse der Schule – zum Glück, muss ich hier sagen – nie viel Aufmerksamkeit schenkte.

Sommer, in denen wir mit Oma Himbeeren pflücken gehen und Opa von allem Fotos knipste, die uns später den so ein oder anderen peinlichen Moment bei Familienfeiern einbringen würden. Jetzt sind die Sommer selten so warm, dass man selbst, wenn es nicht total unangebracht wäre, kaum auf die Idee kommen würde, ohne Hose herumzulaufen. Die Himbeersträucher im Garten meiner Oma sind weg und die Freiheit auch. Jetzt ist man nicht mehr in der Natur, riecht nicht mehr die Sommerregenluft, sondern sitzt in der Bibliothek, riecht den „Bibliothekengeruch“, lernt Wörter auswendig, so sehr, dass die Autorin bald glaubt, zu einem Zombie zu mutieren.

Wenn doch mal einige Momente Sommer und Ferien sind und, wenn wir dann mal aus unserer Zombiestarre in den Bibliotheken rauskriechen und zu Oma fahren, dann ist alles wie früher. Der Duft, die Wärme, fast könnte man die Himbeeren riechen. Wenn ich das Haus meiner Großeltern betrete, dann sieht – bis auf ein paar unwichtige Äußerlichkeiten – alles aus wie früher. Oma kocht immer noch zu viel und regt sich immer noch über meine zerrissenen Jeans auf. Aber ein lang gezogenes „Josef“ sagt sie schon seit ein paar Jahren nicht mehr.

(Text: Miriam Gräf)

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Miriam G.

Wenn Miriam nicht gerade durch Russland reist, dann schreibt sie darüber. Ansonsten erzählt sie noch gerne von der großen Liebe oder schreibt Hassreden gegen Schokonikoläuse. Miriam ist freie Journalistin für verschiedene Online Medien, darunter generationanders.com und to4ka-treff. Seit 2013 ist sie Mentee im Mentorenprogramm der Jugenpresse und Jungejournalisten.de

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