Fußball

Taktik-Analyse der Nationalmannschaft bei der EM 2012

Drei Woche nach der Europameisterschaft wird es Zeit für einen Rückblick. Es war gerade 22:38 geworden an diesem 28. Juni 2012 in Warschau, als Joachim Löw seinen Blick auf den Rasen des Nationalstadions senkte und diesen sekundenlang anstarrte. Die deutsche Nationalmannschaft hatte soeben ihr Halbfinale gegen Italien mit 1:2 verloren und der Bundestrainer ahnte wohl, dass nach seinem vermeintlichen Startelf-Fehler die Kritik am Ausscheiden nun an vor allem an ihm festgemacht würde.

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Er erntete Kritik – dabei hatte der 42-Jährige seine Mannschaft zuvor taktisch stets erstklassig vorbereitet und das Team die jeweilige Marschroute auch sehr gut umgesetzt.

Deutsches Pressing par excellence gegen Portugal
Im ersten Gruppenspiel beim 1:0-Erfolg gegen Portugal überzeugte insbesondere das Pressing der Deutschen: Löws Elf rückte von Anfang an weit auf, Mesut Özil und Mario Gomez störten die gegnerischen Verteidiger früh und nach Ballverlusten setzte die Mannschaft sofort alles daran, den Ball wiederzugewinnen. Die Portugiesen wurden so zu frühen Pässen und unkontrollierten, langen Bällen gezwungen.

Bei eigenem Ballbesitz spielte Deutschland gelassen und kontrolliert. Portugal attackierte die deutschen Spieler erst im Mittelfeld, allerdings nur mit geringem Risiko.
So ging die deutsche Nationalmannschaft in der 72. Minute durch das Tor von Gomez verdient in Führung. Nach dem Treffer jedoch erhöhten die Portugiesen den Druck und wagten ein früheres Pressing, das den Deutschen enorme Probleme bereitete. So war der erste Sieg des Turniers trotz einer über weite Strecken taktisch hervorragenden Leistung zum Schluss vor allem Manuel Neuer zu verdanken, der mehrere starke Paraden zeigte.

Rechte Seite lässt Schweinsteiger und Gomez gegen die Niederlande glänzen
Vier Tage später folgte das Duell gegen die Niederlande, in dem sich das DFB-Team erneut auf einem sehr hohen taktischem Niveau bewegte und schließlich mit 2:1 gewann. Besonders hervorzuheben waren die Leistungen von Thomas Müller, Sami Khedira und Mesut Özil, die die rechte Seite immer wieder überluden und so zahlreiche Überzahlsituationen herstellen konnten.

Besonders gefährlich wurde es für Oranje, wenn sich auch Bastian Schweinsteiger in die Offensive wagte: Weil sich die Sechser der Niederländer, Nigel de Jong und Mark van Bommel, vorrangig um die beiden Madrid-Legionäre im deutschen Team kümmerten, war es Schweinsteiger möglich, aus der Tiefe im Rücken seines Gegenspielers Wesley Sneijder vorzustoßen und im richtigen Moment in die freien Räume ziehen. Bei beiden deutschen Treffern zog Özil seine Gegenspieler nach Außen, so dass Schweinsteiger viel Zeit und Platz hatte, um auf den jeweils im richtigen Moment startenden Mario Gomez durchzustecken.

Dieses Überladen war neben dem erneut sehr guten kollektiven Pressing und dem souveränen Stellungsspiel der taktische Schlüssel, um die niederländische Abwehr zu Fehlern zu zwingen und deren Offensive größtenteils auszuschalten.

Spielerische Fortschritte durch mehr Bewegung gegen Dänemark
Mit Dänemark wartete im letzten Gruppenspiel ein äußerst zäher Gegner auf Löws Mannschaft, der die Niederlande schlug und gegen Portugal erst kurz vor Schluss das 2:3 kassierte.
Deutschland hatte beim 2:1-Sieg über die Skandinavier insbesondere im zweiten Spielabschnitt Mühe, sich gute Chancen herauszuspielen. In der ersten Hälfte hingegen waren spielerische Fortschritte sichtbar: Weil sich die offensiven Außenspieler sowie Mario Gomez sich mehr bewegten als zuletzt und das königliche Duo häufig nach außen auswich, hatten die Dänen enorme Schwierigkeiten im Mittelfeld, wo sie häufig in 2-gegen-1 oder 3-gegen-2-Situationen überladen wurden. Das DFB-Team kombinierte sich so viele Räume heraus und erspielte eine Reihe guter Torchancen, mit denen sie allerdings zu inkonsequent umgingen und so trotz deutlicher Überlegenheit lediglich ein Tor vor dem Pausentee erzielen konnten.

Auch in der Defensive stand Deutschland weitestgehend sicher, indem sie den Europameister von 1992 mit einer Mischung aus Mittelfeld- und Angriffspressing attackierten und so die genauen Zuspiele auf Stürmer Niklas Bendner verhindern konnten. So kam Dänemark nur ein einziges Mal aus dem Spiel heraus zu einer guten Torchance, als Jakob Poulsen kurz nach der Halbzeit das Leder an den Pfosten schoss. Ansonsten gelang ihnen nur wenig. Bezeichnenderweise erzielten die Skandinavier ihren einzigen Treffer nach einer Standardsituation. Für die deutsche Mannschaft trafen Podolski und Bender.

Özil und Reus zaubern gegen Griechenland
Nach der überaus erfolgreichen Gruppenphase musste Deutschland im Viertelfinale gegen die Griechen ran, die überraschenderweise Mitfavorit Russland aus dem Turnier warfen. Joachim Löw veränderte beim 4:2-Erfolg sein Team in der Offensive auf drei Positionen und brachte mit Marco Reus, André Schürrle und Miroslav Klose für Thomas Müller, Lukas Podolski und Mario Gomez frischen Wind in den deutschen Kombinationsfußball.

Besonders der Ex-Mönchengladbacher Reus wusste im Zusammenspiel mit Özil zu überzeugen. Özil orientierte sich in den freien Räumen zum Ball hin, während sich Reus um ihn herum zur Spitze ausrichtete. Durch ihre vielen Rochaden schufen sie sich gegenseitig Räume und leiteten so, vor allem durch den Wandspieler Klose unterstützt, einige Angriffe ein. Die Schussstatistik, die nach 45 Minuten ein 16:2 für Deutschland aufwies, die Anzeigetafel aber nur eine 1:0-Führung für das DFB-Team präsentierte, verriet, dass dieses kreative Zusammenspiel noch nicht perfekt funktionierte. Es fehlte an der letzten Durchschlagskraft und Abstimmung, die kurzzeitig auch durch den 1:1-Ausgleichstreffer durch Giorgos Samaras bestraft wurde. Diesen kleinen Schock kompensierte Löws Truppe jedoch durch drei schnelle Treffer.

Wie fast traditionell in diesem Turnier pressten die Deutschen sehr stark. Das diesmal ziemlich breit angelegte Pressing eröffnete dem Rekordeuropameister einige Kontermöglichkeiten, weil er viele Bälle im direkten Zweikampf auf dem Flügel eroberte oder beim Rückpass abfing, um sich anschließend durch die ungeordnete Formation der Griechen zu kombinieren.
Dass dieses taktische Mittel allerdings auch äußerst riskant war, sah man beim 1:1, als Sami Khedira, der sich zu diesem Zeitpunkt in der tieferen Sechserposition befand, nicht aktiv in den Sicherheitsmodus umschaltete, weshalb die Deutschen nach Schürrles Fehlpass in Unterzahl gerieten und sich die Griechen somit schnell in die Spitze durchkombinieren konnten. Es war also nur ein kleiner, aber entscheidender Fehler, der zu dieser äußerst schwerwiegenden Kontersituation führte.
Dennoch überwog nach diesem deutlichen Sieg die Freude über den vierten Halbfinaleinzug einer deutschen Nationalmannschaft in Folge.

Löw justiert Startelf-Fehler 45 Minuten zu spät gegen Italien
Als am 28. Juni 2012, dem Tag der 1:2-Halbfinalniederlage gegen Italien, etwa 90 Minuten vor Spielbeginn die Aufstellung des DFB-Teams publik gemacht wurde, rieben sich viele Zuschauer verdutzt die Augen: Toni Kroos rückte für den gegen Griechenland überzeugenden Marco Reus in die Startformation. Der Bundestrainer wollte das Zentrum stärken und so rutschte Mesut Özil nach rechts. Für diesen Wechsel erntete Joachim Löw nach dem Spiel zahlreiche Kritik, obwohl Kroos die Mitte tatsächlich stabilisierte. In Zusammenarbeit mit Sami Khedira engte er immer wieder die Kreise Andrea Pirlos und auch Daniele de Rossis ein.Nach vorne konnte sich der Bayern-Profi zwar kaum einschalten, seine Defensivaufgaben erledigte er jedoch sehr sauber.

Den entscheidenden Fehler machte Löw mit der Hereinnahme von Mario Gomez und Lukas Podolski, die das Kombinationsspiel erheblich schwächten. Gomez kam nur bei hohen Flanken an den Ball, der statische Podolski hing entweder am Flügel oder verschleppte das Tempo.
Podolskis fehlende Präsenz war noch in anderer Hinsicht ein Problem: Dem deutschen Spiel mangelte es im ersten Durchgang an Breite. Das deutsche Spiel war relativ linkslastig, weil Özil häufig in die Mitte zog und sich Jerome Boateng nur selten nach vorne traute. Dies machte den Italienern das Verteidigen leicht. Ihre Defensive verschob sich nach der Anfangsviertelstunde klar auf Podolskis Seite. Gegen die italienische Überzahl auf dem Flügel und im Zentrum hätte es entweder schnelle Kombinationen oder Spielverlagerungen gebraucht – beide Mittel wurden allerdings weder von Podolski noch von den anderen deutschen Akteuren eingesetzt. Nichtsdestotrotz hätte Deutschland gute Chancen gehabt, das Spiel zu gewinnen, jedoch verhinderten die vermeidbaren individuellen Fehler bei den Gegentoren einen besseren Ausgang.

Im zweiten Spielabschnitt wechselte Löw Miroslav Klose und Marco Reus für die beiden Sorgenkinder ein und tatsächlich agierte die Offensivabteilung fortan schneller und variantenreicher und stellte die italienische Hintermannschaft vor große Probleme. Auch das Pressing funktionierte in der zweiten Hälfte wieder besser. Da der deutschen Mannschaft dann aber kein schnelles Tor gelang, musste der Bundestrainer erneut reagieren und brachte mit Thomas Müller für Boateng eine weitere Offensivkraft in die Partie. Aber auch diese Maßnahme verpuffte. So gelang den Deutschen erst in der 92. Minute der Anschlusstreffer durch einen verwandelten Handelfmeter, der jedoch zu spät kam.

Zwei Minuten danach pfiff der Schiedsrichter das Spiel ab und Joachim Löw senkte seinen Blick auf den Rasen des Warschauer Nationalstadions. Das Halbfinale war verloren, die Mannschaft sowie der Bundestrainer aber durften das Stadion angesichts ihrer größtenteils hervorragenden taktischen, aber auch spielerischen Turnierleistungen erhobenen Hauptes verlassen.

(Text: Patrick Schmid)

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