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“Reckless” – eine wahrhaft grimmige Geschichte

Die Spindel, die Dornenhecke, der hundertjährige Schlaf – Motive, die bei jedem Kind manch fröhliche Assoziation hervorrufen. Nicht so bei Cornelia Funke. In ihrem neusten Roman bricht sie mit der Tradition. Der Prinz hängt tot in den Dornen, zur Prinzessin hat er es nie geschafft. Die Schöne liegt verwest in ihrem Turm, umringt von Knochen und Gebeinen.[divide]

Sie habe Märchen eine moderne Bedeutung geben wollen, erklärte die deutsche Erfolgsautorin Cornelia Funke in einem Interview. Genau hieraus bezieht ihr Roman seine unglaubliche Faszination. Er beleuchtet die andere Seite der fabulösen Erzählungen, ihre düstere Seite. Da wäre beispielsweise die „Kinderfresserin”, eine Hexe, die Kinder in ihr Lebkuchenhaus lockt, um sie dort zu verspeisen. Oder die gefürchteten Wassermänner, die alle Jungfrauen des Landes entführen, um sie gefügig zu machen. Nicht zu vergessen, die schöne Königstochter, die eine goldene Kugel besitzt, in der sie ihre Männer gefangen hält.

So ist es nicht verwunderlich, dass „Reckless” nicht im Märchenwald, sondern im heutigen New York einsetzt. In einer sehr knappen Exposition wird die Vergangenheit der Brüder Jacob und William Reckless beleuchtet. Nach dem plötzlichen Verschwinden ihres Vaters wachsen die beiden Jungen bei ihrer Mutter auf, die in ihrem Kummer alles verbietet, was an den Vater erinnert. Besonders das Arbeitszimmer des Verschollenen muss stets verschlossen bleiben. Eines Nachts stiehlt Jacob den Schlüssel und entdeckt einen antiken Spiegel, der als Portal in eine andere Welt dient.

Mehr als zehn Jahre später setzt die eigentliche Handlung ein. Die „Spiegelwelt” ist längst zu Jacobs Heimat geworden. Nur selten kehrt er nach Hause zu Mutter und Bruder zurück. Stattdessen sucht er das Abenteuer und spürt als Schatzhändler begehrte Trophäen wie das „Tischleindeckdich”, den „Gläsernen Schuh” oder seltenes „Rapunzelhaar” auf. Sie sollen der Kaiserin, Therese von Austrien, im Kampf gegen die verfeindeten Goyl helfen, ein kriegerisches Volks aus steinernem Fleisch.

Seit Jahrhunderten herrscht Krieg zwischen beiden Geschlechtern. Dank seiner grausamen Geliebten, wird Kami’en, König der Goyl, zunehmend mächtiger. Ihr Fluch bewirkt, dass jeder Mensch, der von einem Goyl berührt wird, versteinert und mit der Zeit ebenfalls zu einem Goyl mutiert. Genau das passiert Will, als er seinem Bruder eines Tages nichts ahnend durch den Spiegel folgt. Jacob bleibt nicht viel Zeit, wenn er seinen Bruder vor der totalen Versteinerung retten will. Zu allem Überfluss taucht plötzlich auch noch Wills Freundin Clara auf, die ihrem Liebsten durch den Spiegel gefolgt ist. Es beginnt eine abenteuerlicher Reise durch die „Spiegelwelt”, ein Wettlauf mit der Zeit. Denn Will wird nicht nur äußerlich zum Goyl.

Cornelia Funke ist die derzeit erfolgreichste deutsche Schriftstellerin im In- und Ausland. Ihre Jugendbuchreihen „Die wilden Kerle”, „Die wilden Hühner” und „Tintenherz” eroberten die Bestsellerlisten im Sturm. Mit ihrer millionenfach verkauften Tintenherz-Trilogie machte sie sogar Hollywood auf sich aufmerksam. Auch „Reckless” ist als Langzeitprojekt angelegt. „Steinernes Fleisch” bildet hier als Teil 1 den Auftakt. Die Folgebände sollen laut Funke vor dem Hintergrund wechselnder nationaler Märchentraditionen wie Frankreich, Russland oder Asien spielen.

„Reckless” ist deutlich düsterer und reifer als Funkes bisherige Romane. Als Kinderbuch kann es kaum mehr deklariert werden. Zu viele Schattengestalten, Irrwege, Schicksalsschläge und Sprachspiele weist der Roman vor. Die Autorin zieht ihre Leser hier auf fesselnde Art und Weise in magische Erzählwelten, die geradezu virtuos miteinander verknüpft sind und herrliche Assoziationen mit bekannten Märchenelementen offenbaren.
Dass Funke sich für ein offenes Ende entschieden hat, erscheint plausibel, angesichts der Tatsache, dass zahlreiche Fortsetzungen geplant sind. Für den Leser ist es jedoch eine einzige Qual, ein ganzes Jahr darauf warten zu müssen, wie es weitergeht mit Jacob, William und Clara.

Fazit: Ein Muss für alle Bücherwürmer!

(Text: Julia Hanel)

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