KulturLiteratur

“Chronik einer Revolution”

Die Demonstrationen und Aufstände in Tunesien gelten als Beginn für eine Welle, die durch alle arabischen Länder schwappt. Der Exiltunesier und Buchautor Amor Ben Hamida verfasste nun ein Buch über seine Beobachtungen vor Ort vom 12. bis zum 19. Januar 2011. Für back view hat er eine Leseprobe zusammengestellt.[divide]

„Die wenigen Autos auf der Straße brachte ich in Zusammenhang mit der Jahreszeit, da ich ansonsten nur im Frühsommer oder Herbst hier bin, wo der Verkehr doch wesentlich stärker ist. Im Auto aber begannen meine Brüder mir einige Details der letzten Tage zu erzählen. Mich schauderte schon. Und obwohl wir wie gewohnt leise redeten, wenn schon unter uns, dann waren die Aussagen ungeheuer: es bahnte sich etwas an, eine große dunkle Wolke am Horizont, bedrohlich, beängstigend und unberechenbar! Die Schüsse, die täglich fielen und Demonstranten trafen, stachen wie Messer in die Leiber der Bevölkerung.

Wie lange wird der Staat sein Volk abknallen? Wird das Volk aufgeben und kuschen oder wird der starke Arm der Regierung endlich brechen?
In Umrissen wurde mir die Lage beschrieben: die Demonstrationen fingen im Dezember schon an und breiteten sich innerhalb weniger Wochen von Südwesten gleichzeitig nach Süden und Norden. Besonders Tunis war täglich und nächtlich von Demonstrationen betroffen.

Auch die Abwesenheit der Polizei wurde mir schnell erklärt: seit einigen Tagen wurden Polizeiposten angegriffen und in Brand gesetzt. Die Ordnungshüter haben den Auftrag erhalten, sich nach Hause zu begeben und nur auf Kommando herauszukommen.”

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„Als ich zuhause ankam, vergaßen wir für eine Weile die dunkle Wolke, wir haben das  Wiedersehen gefeiert, haben gegessen und die Geschenke verteilt: Honig für die Mutter, Schokolade und Bonbons für die Kinder und Erwachsenen, Altkleider, Fotos, Assugrin für zwei zuckerkranke Verwandte, Vitamintabletten für meine Mutter und die Tante, Baby-Kleider für das neugeborene Mädchen meiner Nichte… Sie schien schlecht geschlafen oder übermüdet zu sein, meine Nichte. Meine Vermutung, es hätte mit dem Baby zu tun, hat sie aber schnell verneint: ihr Mann sei in Tunis allein im Haus, sie besuchte ihre Eltern in Medenine und war hier vor den großen Unruhen angekommen. Nun ruft sie mehrmals täglich ihren Mann an, der sich anscheinend auf dem Dach seines Hauses verschanzt und mit Ziegelsteinen bewaffnet hat, um die Randalierer fern zu halten. Er hatte ihr wörtlich gesagt: „Mach dir keine Sorgen. Ich schlage jedem den Kopf ein, der sich an mein Haus wagt. Die Hurensöhne und Taugenichtse! Während die einen versuchen, einen Aufstand zu führen, plündern und bestehlen sie ihre eigenen Bürger. Bleib, wo du bist. Es wird schon gut gehen.”

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„Wir wussten nicht, dass der Freitagmorgen (Anmerkung der Redaktion: 14. Januar 2011) Schwierigkeiten bringen würde… Ich erfuhr im Laufe des Abends von meinen Brüdern und Cousins, die von meiner Ankunft erfahren haben, aber auch über die verschiedenen Fernsehsender, die ständig liefen, so einiges über die Situation. Niemand wollte mehr dulden, dass eine Handvoll gieriger Männer und Frauen – Freunde und Verwandte des Präsidenten und seiner Gattin – alles in Besitz nahmen, was wirtschaftlich Erfolg hatte. Banken, Versicherungen, Telekom-Unternehmen, Institutionen, Hotelanlagen und Ländereien wurden den Menschen unter Druck zu Spottpreisen abgekauft.

Die Menschen hatten es satt zu hören: „Komm morgen, die Papiere sind noch nicht bereit.” Und wenn man dann eine Fünfer- oder Zehnernote hinlegte – und das nicht etwa im Versteckten – dann waren die Papiere doch schon bereit. Und bei größeren Projekten waren die Summen entsprechend höher: so sollen einfache Beamte einer Bewilligungsbehörde einem Antragsteller alles geklärt, visiert und genehmigt habe. Als er alles abholen wollte, sagten sie ihm: „Uns fehlen zwei Klimaanlagengeräte. Was meinst du?” Er weigerte sich, und die Papiere verschwanden wieder für eine lange Zeit und aus dem Projekt wurde außer Spesen nichts mehr…

Man stelle sich vor: in Konstanz oder Freiburg würde ein Beamter von einem Antragsteller erst mal die Finanzierung einer Elektroheizung für sein Büro verlange, bevor er ihm seine Papiere aushändigt. Das wüssten die Zeitungen innert Minuten. Aber hier konnte keiner zu einer Zeitung, die auch etwas Derartiges abdrucken würde.
Und nun prangerten alle Fernseh- und Radiosender die Korruption des alten Regimes und seiner Helfershelfer. Was aber alle unbedingt und sofort wollten war Arbeit! Die Hunderttausenden Jungendlichen, die mit Hochschulabschluss in den Cafés saßen, wollten endlich eine Stelle und ein Einkommen.”

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Amor Ben Hamida ist 1958 in Tunesien geboren. Sein aktuelles Buch „Chronik einer Revolution” ist ab Ende Februar 2011 erhältlich.

 

back view

Das Magazin back view wurde am 6. April 2007 gegründet. Seit mehr als acht Jahren schreiben wir nun schon für euch und kommentieren euch die Welt. Danke für euer Interesse an unseren Artikeln. ;)

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