Fußball

Kopfball ins Glück

In Carson, USA, läuft die 98. Spielminute. Deutschland steht 2003 im Finale gegen Schweden, nach einem 1:1 ging es zunächst in die Verlängerung. Renate Lingor läuft an, schlägt einen Freistoß aus dem Halbfeld in den Strafraum. Dort schraubt sich Nia Künzer hoch und trifft zum Golden Goal – Deutschland ist Weltmeister!

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Das Tor Künzers war für die Schützin wie auch den deutschen Frauenfußball ein Kopfball ins Glück. Lange Zeit waren weibliche Kicker verpönt, sie galten als trockene Botschafter eines langweiligen Sports. Die Frauen, die aktiv spielten, sollten ohnehin halbe Männer sein, die aber nicht mal ansatzweise so gut gegen den Ball treten könnten.Golden Goal wird Tor des Jahres
Mit dem Golden Goal und dem errungenen Weltmeistertitel hüpfte der deutsche Frauenfußball jedoch erstmals groß auf ein Sprungbrett. Das Kopfballtor wurde in allen Sendeanstalten rauf und runter gezeigt. Aus allen erdenklichen Perspektiven, in Super-Slow-Motion. Letztendlich wurde der ultimative Dosenöffner zum Tor des Jahres 2003 gewählt. Ein bis dato männerdominiertes Genre wurde erstmals von einer Frau erobert.
Nia Künzer war danach eine gefragte Frau. Nicht die mehrfache Weltfußballerin Birgit Prinz, sondern auch und vor allem die vermeintlich unbekannte Torschützin wurde in der Öffentlichkeit wie ein bunter Hund herumgezeigt.

Nach dem Karriere-Aus zur ARD
Sportlich lief es für die in Botswana geborene Künzer auch nach der Weltmeisterschaft erfolgreich. Beim 1. FFC Frankfurt wurde sie insgesamt siebenmal Deutscher Meister, hinzukommen noch sieben DFB-Pokal-Siege und drei Erfolge im Uefa-Cup.
Körperlich jedoch musste sie ihrem Treiben auf dem Platz Tribut zollen. Nach vier Kreuzbandrissen beendete sie 2006 zunächst ihre Nationalmannschaftskarriere und 2008 hing sie auch die Vereinsschuhe an den Nagel. Eine Karriere, die durch ihr Golden Goal so recht entfacht wurde, endete an der profansten und gleichzeitig dämonischsten Verletzung, die der Fußball kennt. Vier Kreuzbänder adäquat zu flicken ist nahezu unmöglich.

Doch mit dem Aus in der sportlichen Karriere endete längst nicht ihre Rolle als Symbolfigur. Schon 2006 nach ihrem Nationalmannschafts-Aus arbeitete sie als ARD-Expertin bei Frauenfußball-Übertragungen. Diesen Job erfüllt sie bis heute, einschließlich der Frauen-WM in Deutschland.

Wie Philipp Lahm – nur authentischer
Nia Künzer, deren Eltern in Botswana als Entwicklungshelfer arbeiteten, ist nach ihrem 18. Geburtstag mehrfach nach Afrika gereist, um dort unter anderem das Frauenfußballprojekt Galz & Goals in Namibia zu unterstützen. Im hessischen Innenministerium waren ihre Expertise und das Wirken als Botschafterin ebenso gefragt. Natürlich kamen auch die klischeehaften Auszeichnungen, wie der ihr 2004 verliehene Titel als Maxim Woman of the Year des Männermagazins MAXIM.

Sie nahm schon damals eine ähnliche Rolle wie heute Philipp Lahm ein. Nur wirkt die heute 31-Jährige dabei authentischer als ihr männliches Pendant. Lahm ist ein Sonnyboy des Fußballs, diese Rolle hat er seit einigen Jahren perfektioniert. Auch Künzer verkörperte seit dem Golden Goal 2003 eine neue Hoffnung.
Mit dem Fußballgeschäft gingen auch eigene Ideale verloren, das müsse man jedoch hinten anstellen, sagte Künzer sebst. So müsse man auch einen ehemaligen Sponsor der Frankfurterinnen, eine nach der Finanzkrise gerettete Bank, akzeptieren. Das ist und bleibt Teil des Geschäfts.

Der nächste Schritt
Die 34-fache Nationalspielerin war zur rechten Zeit am rechten Ort. Sie köpfte Deutschland ins Glück und war die attraktive, authentische und locker auftretende Botschafterin, die der Deutsche Frauenfußball zu dieser Zeit benötigte. Es ist jedoch auch eine Gratwanderung zwischen Reduzierung auf den Phänotyp und seriösem Sport. Künzer wirkte dabei aber stets bodenständig und engagiert.
Sie hat diesen einen immens wichtigen Anstoß gegeben, von dem der deutsche Frauenfußball noch immer profitiert. Als Symbolfigur und als ARD-Expertin wird sie ihren Kolleginnen die Daumen drücken. Die müssen nun bei der Heim-WM den nächsten Schritt machen.

(Text: Jerome Kirschbaum)

Jerome K.

Jerome schreibt am liebsten über Sport, wenn er denn nicht selbst auf einem Platz steht. Seit Oktober 2010 verdingt sich Jerome als Schreiberling für back view, neben den Leibesübungen widmet er sich sich auch politischen Themen. Im wahren Leben musste Jerome zahlreiche Semester auf Lehramt studieren, um dann schlussendlich doch etwas ganz anderes zu werden.

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