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Konzeptexperimente und Zwischenwelten

Als Lou sich dazu entscheidet, in der Schule ein Referat über Obdachlosigkeit zu halten, lernt sie No kennen, eine junge Frau, die schon längst die Hoffnung aufgegeben hat, dass „die Dinge” sich noch für sie ändern könnten. Die hochbegabte Lou wird zur Einzelkämpferin.

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Trotz ihrer dreizehn Jahre ist Lou Bertignac ihren Mitschülern weit voraus. Nachdem sie mehrere Klassen übersprang, sitzt sie nun in einem Klassenzimmer umgeben von deutlich weiter entwickelten Mädchen und gut aussehenden Jungen. Lou weiß um ihre Außergewöhnlichkeit, legt ihre Intelligenz ihr doch allzu oft Steine in den Weg. Während andere in ihrer Freizeit Shoppen gehen, führt das französische Mädchen bei sich zuhause „Konzeptexperimente” und „Widerstandsfähigkeitstests” durch, sie untersucht die Verpackungen von Lebensmitteln auf ihre gemeinsamen Inhaltsstoffe und prüft die Reaktion unterschiedlicher Brotsorten auf die Stufe acht ihres Toasters.

Als sie eines Tages beim Beobachten der Züge im Bahnhof die obdachlose No kennen lernt, ist schlagartig Lous Interesse an dem seltsamen Mädchen geweckt, um das sich so viele Geheimnisse zu ranken scheinen. Wie kam sie auf die Straße? Was geschah mit ihren Eltern? Und wen liebt sie eigentlich?

Nach und nach öffnet sich die verschlossene No Lou. Mit fünfzehn Jahren wurde ihre Mutter von vier Männern vergewaltigt und Nos Großeltern kümmerten sich nach der Geburt um ihr Enkelkind. Nos Mutter konnte ihr Kind selber nicht berühren und so lebte das Mädchen hinfort bei seinen Großeltern, auch, als die Mutter mit achtzehn Jahren einem Mann nach Paris folgte.

Doch No gibt lange nicht alles von sich Preis. Wenn sie nicht mehr reden möchte, breitet sie den Mantel des Schweigens über sich und Lou aus und zündet sich eine Zigarette an.

Man könnte vermuten, dass nach Lous Referat die Geschichte um No enden müsste, die sich jeden Tag eine neue Bleibe suchen muss, die nicht weiß, wo sie morgen schläft, für die jeder Tag ein neuer Kampf ums Überleben ist und die einzig und allein Alkohol und Zigaretten trösten können.

Doch Lou möchte die Dinge verändern. Sie weiß um die Ungerechtigkeit der Welt. Sie möchte, dass sich Leute aus ihren Schubladen befreien können und will nicht länger mit ansehen, wie No in dieser „Zwischenwelt” gefangen ist, auf die niemand Rücksicht nimmt. Irgendwo zwischen Bushaltestellen und Sozialwohnungen ist diese Zwischenwelt, in der sich nachts die Gestalten der Straße herumtreiben.

So zieht No bei Lou ein und macht Bekanntschaft mit den klaffenden Wunden, die auch diese Familie aufzuweisen hat. Berührend erzählt Lou von ihrer kleinen Schwester Thaïs, deren tragischer Tod als Baby wie ein Schatten über dem Alltag der Bertignacs ist. Lous Mutter ist seit jeher depressiv und nimmt ihre Tochter nicht mehr in den Arm, verschanzt sich in den Ecken des Hauses und erledigt ihre Pflichten roboterartig.

Einfühlsam erzählt Delphine Vigan die Geschichte eines ganz besonderen Mädchens und es könnten einem beim Lesen dieses Buches die Tränen kommen, wenn Lou aus der Ich-Perspektive erzählt, wie sie zu dem Geburtstag eines Mädchens eingeladen wurde, sich hübsch anzog, für jeden ein Geschenk kaufte und schlussendlich zuhause blieb, weil sie um ihre Andersartigkeit wusste.

In ihrer Sprache erzählt Lou ihre Geschichte und bringt den Leser durch ihre seltsamen Experimente oft zum Schmunzeln. Mit einer Leichtigkeit und der Fähigkeit, alles auf den Punkt zu bringen, wird der Roman „No & Ich” nie langweilig. Delphine Vigan beleuchtet auf beeindruckende Art und Weise alle Facetten von Nos Leben, zeigt durch kurze Rückblicke in Lous Kindheit auf, wie zerrüttet das Verhältnis zur Mutter ist und lässt das Ganze von zwei Liebesgeschichten untermalen, einer erfüllten und einer unerfüllten.

Bis zum letzten Moment bleibt „No & Ich” spannend, da nie das Geheimnis gelüftet wird, wie No an das Geld zur Erfüllung ihres größten Traum kommt und ob sich dieser Traum erfüllt.

Eine tragische und zugleich mutmachende Geschichte über Freundschaft und Veränderungen.

(Text: Ronja Heintzsch)

Ronja H.

Konstruktive Kritik in bitterscharfen Kommentaren üben, die Welt bereisen, auf aktuelle Problematiken hinweisen - all dies sind Gründe, aus denen Ronja beschloss, sich dem Metier Journalismus zu verpflichten. Schließlich gibt es noch einige unaufgedeckte Watergate-Affären in dieser Welt.

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