KulturLiteratur

Franzis Leseecke: Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm

Ein Roman über das Vergessen. Aber auch darüber, dass Worte und Fantasie uns am Leben halten können. Über die große Liebe und den Umgang mit ihrem Verlust. Und einem Wal, der die Themse hinauf schwimmt.
[divide]

Franzis Leseecke back view

Am Anfang war die Insel.

Anna ist Finnin und in Antti verliebt. Als dieser stirbt, bricht für sie eine Welt zusammen. Kein Ort fühlt sich mehr wie ein richtiges zu Hause an. Der Leser begleitet sie auf einer ruhelosen Reise, die auch quer durch London führt, wo sie aber genauso fremd und verloren ist wie der Wal, den sie vom Busfenster aus die Themse hoch schwimmen sieht.

„Das einzig Wilde, was man in London fand, war die Stadt selbst.“

Dass der Roman mit einem Besuch Gottes bei Anna beginnt, sollte keinen Leser, so atheistisch er noch sein mag, abschrecken. Er ist eine viel entspanntere, barfuß laufende Version seiner selbst, der Anna auf den Balkon zum Rauchen entführt und dem sie ihre Geschichte erzählt.

Die Geschichte von Antti und Iwan Mischukow, dem Wolfsjungen. Ihrer Zeit in London und ihrem Leben unterwegs. Trotzdem frage ich mich als Leser immer wieder, wo Annas Fantasie mal wieder Kapriolen schlägt und was der Wahrheit entspricht. Die tote Frau im Wald, die Winterschlaf hält. Annas Kinder, die aus dem Kuchenteig entstehen oder aus den Ritzen der Couch kriechen und mit denen sie sich wenigstens etwas von Antti bewahren will, sei es seine Augenfarbe oder die Art, wie er sich eine Strähne aus dem Gesicht pustet.

Dinge einfangen und bewahren, dafür lebt Anna.

„Wäre es möglich, Augenblicke einzufrieren, würde ich diesen in eine Plastikdose legen, dachte Anna. Dann könnte man den Winter über davon zehren. Es gab genug solcher Augenblicke für den ganzen Winter.“
Aber ihre kleinen Listen, mit denen sie ihre Umgebung beschreibt und einprägt, werden von einer Spielerei zum Symbol ihres Gedächtnisverlustes, der immer deutlicher wird.

Franzis LeseeckeFazit

Auf dem Buch prangt ein Aufkleber der Frankfurter Buchmesse, auf der Finnland 2014 Ehrengast sein wird und gibt dem Buch das Prädikat: cool. Auch Anna ist cool; oft sind ihre Gefühle unterkühlt und tief vergraben nach dem großen Verlust den sie erlebt hat. Trotz allem wächst diese seltsame Hautperson mit ihren Listen und ihrer Fantasie dem Leser ans Herz.

Trotz aller Katastrophen fließt das Buch eher so dahin. Keine dramatischen Höhepunkte, sondern eine ruhige Fahrt auf dem Fluss der Erinnerung. Selja Ahavas Roman ist meine Entdeckung der Leipziger Buchmesse und ich rate jedem Leser von backview nicht vor dem höheren Kaufpreis zurückzuschrecken, ist Mare doch ein Independent-Verlag, der seine Bücher mit Bedacht aussucht.

Meine Bewertung von “Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm”:

3 von 5 Sternen

Informationen zum Buch:
Titel: Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm
Originaltitel: Eksyneen muistikirja, 2010
Autorin: Selja Ahava
Verlag: Mare
Seiten: 224
Amazon: Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm

[divide style=”2″]

Welches Buch liegt bei euch gerade auf dem Nachttisch oder in der Handtasche? Falls ihr auf der Suche nach neuem Lesestoff seid, schaut doch mal auf meinem Blog vorbei. Dort findet ihr noch mehr Buchvorstellungen und meine neuesten Errungenschaften.

Schreibe einen Kommentar