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“Für mich ist es einfach eine riesengroße Krise”

Alisa ist 29. Sie arbeitet als Übersetzerin und Dolmetscherin in Manchester. Sie hat immer gerne dort gelebt und gearbeitet. Doch seit dem Ergebnis des Brexit-Referendums denkt sie über eine Rückkehr nach Deutschland nach. Kristin Heck hat mit Alisa über ihre persönlichen Folgen des EU-Ausstieg Großbritanniens gesprochen.[divide]

back view: Du lebst als Deutsche in Großbritannien. Hast du dir im Vorfeld viele Gedanken über die Abstimmung gemacht?
Ja, sehr viele. Für mich und alle anderen Europäer, die in England leben hängt da ja unglaublich viel daran. Ich konnte es auch überhaupt nicht nachvollziehen, wenn mir Leute, Ausländer wie Engländer, erzählt haben, dass sie sich eigentlich nicht wirklich Gedanken darüber machen. Wobei ich im Nachhinein auch denke, dass viele, die vorher eher entspannt waren einfach felsenfest davon überzeugt waren, dass die Briten schon nicht für Leave stimmen würden, weil jetzt ist das Thema keinem mehr gleichgültig.

Alisa Brexitback view: Als „Immigrant“ war es dir nicht möglich zu wählen. Wie hast du das empfunden?
Absolut furchtbar. Die Entscheidung betrifft ja uns Immigranten viel mehr als die Einheimischen. Und dann da überhaupt kein Mitsprachrecht zu haben, fühlt sich schrecklich an. Ich habe zwar schon mit Freunden geredet und auch versucht, deren Entscheidung zu beeinflussen, aber wenn du selber keine Stimme hast, fühlt es sich so an, als ob deine Meinung automatisch weniger wert ist. Für mich war das wirklich sehr emotional und als ich so zwei Wochen vor der Wahl einen Brief erhielt in dem mir ausdrücklich mitgeteilt wurde, dass ich eben nicht abstimmen darf, musste ich tatsächlich vor lauter Wut weinen.
Das einzig Gute, wozu diese Machtlosigkeit allerdings geführt hat ist, dass ich mir ernsthaft Gedanken gemacht habe, ob nicht das ganze Wahlsystem reformiert werden sollte. Wenn jeder sich innerhalb der EU frei bewegen darf und überall arbeiten und Steuern bezahlen darf, dann muss man eigentlich auch das Recht haben, an der Politik mitzuwirken. No taxation without representation, wie man hier so schön sagt.

back view: Hast du die Auszählung verfolgt und wie war deine erste Reaktion als klar war, dass Großbritannien die EU verlassen wird?
Nein, habe ich nicht. Ich war am Abend, als die Stimmen ausgezählt wurden mit einem irischen und einem französischen Freund, sowie mit meinem portugiesischen Partner und einer weiteren Deutschen im Pub. Geradezu ironisch.
Ich habe dann Freitag früh über eine Whatsapp-Nachricht von meinem Papa („England hat abgestimmt, willkommen zurück in Deutschland“) herausgefunden, wie die Abstimmung ausgegangen ist. Dann habe ich sofort auf dem Handy, noch im Bett die Nachrichten gecheckt und gesehen, dass es kein Witz war, sondern die wirklich für den Austritt gestimmt haben. Und dann flossen eigentlich auch sofort schon die Tränen, fast ununterbrochen, bis ich dann auf der Arbeit war. Und dann auch da noch ein-, zweimal.

back view: Welchen Stellenwert hat die EU in Großbritannien? Ist sie überhaupt von Bedeutung?
Es ist schon so, dass die Engländer der EU einfach skeptisch gegenüberstehen. Auch wenn man im Gespräch manchmal merkt, dass ihre Meinung doch eher auf Hörensagen oder Gerüchten fußt als auf Tatsachen. Es scheint fast eher eine Grundhaltung als eine Überzeugung zu sein, so frei nach dem Motto „Ich weiß nicht genau warum, aber ich bin dagegen.“ Die EU wird schon gerne als Antagonist dargestellt, als großes böses Abstraktum, dass einem das tagtägliche Leben durch unzählige Regeln und Gesetze kontrollieren will und einem Geld für nix aus der Tasche zieht.

back view: In den letzten Tagen werden immer mehr Stimmen laut, dass die Menschen nicht ausreichend informiert wurden. Deine Einschätzung?
Jein. Die Informationen waren schon vorhanden, aber wie eben. Die Leave-Seite hat da willkürlich mit Zahlen um sich geworfen, die hinten und vorne nicht gestimmt haben und haben das Blaue vom Himmel herunter versprochen. Und die fachlich kompetenten Stimmen, die sich kritisch zum Brexit geäußert haben, wurden ja dann als Panikmacher verschrien. Otto Normalbürger glaubt einfach seiner Tageszeitung, was eigentlich kein Problem ist. Außer natürlich wenn besagte Tageszeitung sich klar auf der Seite der Leave-Kampagne befindet, Brexit-kritische Experten diskreditiert, Johnson und Gove seitenlang schwadronieren lässt, wie toll doch alles nach dem Brexit wird und deren Lügen quasi jeden Morgen mundgerecht zum Frühstück serviert.
Alle Information war irgendwie immer eindeutig einer der beiden Kampagnen zuordenbar, nie neutral und dann wird es einfach schwierig, sich eine Meinung zu bilden.

back view: Theoretisch hat das Parlament die Möglichkeit den Brexit aufzuhalten, doch bislang sieht es nicht so aus als könnten sich die MPs dazu durchringen. Eine Online-Petition fordert eine erneute Abstimmung und über 3.5 Mio. Menschen haben bereits unterschrieben. Denkst du, dass diese Einfluss auf die Entscheidung des Parlaments nehmen wird?
Schön wäre es, ich befürchte aber nicht. Ich habe auch irgendwo gelesen, dass ein Mitglied der griechischen Regierung, den Briten empfiehlt, die Abstimmung einfach zu ignorieren, weil es ja doch jetzt schon so aussieht als wären die Folgen größtenteils negativ. Ich finde auch, dass die Abstimmung wiederholt werden sollte, zum einen, weil die Informationen im Vorfeld nicht nur irreführend sondern stellenweise vollkommen falsch waren, und zum anderen weil die Rahmenbedingungen nicht festgelegt waren, zum Beispiel wie hoch die Wahlbeteiligung sein müsste bzw. wie viele Menschen für eine der beiden Optionen stimmen müssen, damit es als repräsentativ angesehen werden kann. Bei einer Stimmverteilung von 48 Prozent zu 52 Prozent sollte definitiv keine Entscheidung gefällt werden, da ignoriert man ja quasi den ausdrücklichen Willen jedes zweiten Wählers.

back view: Ein Begleiteffekt des vermeintlich gewonnenen Referendums ist der zunehmende offene Rassismus bzw. falsch verstandene Nationalismus, so wird es auf jeden Fall in den sozialen Netzwerken berichtet. Ist dir in der Hinsicht schon etwas aufgefallen?
Mir persönlich Gott sei Dank noch nicht. Allerdings wurde eine Bekannte von mir, die schon wesentlich länger als ich in England lebt, gestern beim Fußball gucken im Pub angepöbelt. Inklusive Hitlergruß und solcher Sperenzchen. Das geht mir dann natürlich schon nahe und macht wütend und traurig. Außerdem hat es auch Auswirkung auf das alltägliche Leben. Gestern erst haben ich und meine Freundinnen, die auch in England leben darüber geredet, wie die Frage „Wo kommst du ursprünglich her?“ vollkommen ihre Unschuld verloren hat. Sonst hat man immer einfach geantwortet „Aus Deutschland.“ und konnte dann mit ein paar Klischees und Standardwitzen gerne auch über den Krieg oder Fußball rechnen. Jetzt ist das nicht mehr so. Ich versuche das Thema zu vermeiden, weil ich nicht mehr abschätzen kann, wie mein Gegenüber reagieren wird. Auf einmal hat man dieses Misstrauen gegenüber den Leuten.

back view: Was würde ein Brexit für dich ganz persönlich bedeuten?
Konkret lässt sich das ja im Moment noch schwer abschätzen, es weiß ja keiner, was passieren wird. Da meine Arbeit auf den europäischen Markt fokussiert ist, könnte ich mir vorstellen, dass ich die im Falle eines Brexits über kurz oder lang verlieren werde, auch wenn mir im Moment jeder versichert, dass das nicht passieren wird. Ob dem tatsächlich so ist, ist schwer abzusehen – so erzählte mir ein europäischer Kollege, dass ihm bereits jetzt merklich weniger Vorstellungsgespräche angeboten werden als vor dem Referendum, vermutlich weil eben niemand weiß, wie sich die ganze Situation in Zukunft entwickeln wird.
Für mich ist es einfach eine riesengroße Krise, ich bin ein totales Kind der Europäischen Union. Ich habe in Deutschland und England studiert, meinen portugiesischen Freund in England kennengelernt und lebe jetzt dort mit ihm. Ohne die EU wäre das vielleicht nie passiert. Ich habe so viele tolle Leute durch mein Studium, meine Arbeit und Reisen kennengelernt, mir graut es davor, dass für uns in Zukunft schwieriger werden könnte, uns zu treffen. Und mir tut es leid für kommende Generationen, die die Chancen, die ich dank der EU hatte, nie kennenlernen werden, um all die Freundschaften und Beziehungen, die nie entstehen werden.

back view: Fühlst du dich in eigenen Lebensplanung dadurch beschränkt?
Ja, schon etwas. Zwar sind wir im Moment noch „sicher“, da sich ja vor dem Inkrafttreten von Artikel 50 nichts ändert, aber man ist einfach in seiner Planung gehemmt. Soll ich mir jetzt noch eine neue Wohnung suchen? Will ich meine Arbeit in dieser unsicheren Situation wechseln? Solche Sachen eben. Ich bin jetzt auch an einem Punkt, wo ich mal über potentielle Kinder nachdenke und da kann ich eben momentan gar nichts mehr planen, weil die Situation viel zu unsicher ist.

back view: Hat sich deine Gefühle hinsichtlich des Brexits in den letzten Tagen verändert? Wenn ja, was war ausschlaggebend dafür?
Also am Tag der Ergebnisse des Referendum war ich einfach nur traurig weil die Europäische Idee an dem Morgen in England gestorben war. Dann im Laufe des Tages ging das eher in Wut über. Zum einen, weil man überall Johnson und Farge gesehen hat, die sich über den neuen Britischen Unabhängigkeitstag gefreut haben, wenn einem selber zum heulen zu Mute war. Und auch weil ja Farage gleich in einem der ersten Interviews nichts mehr von den 350 Millionen wissen wollte, die während der Kampagne versprochen wurden, da habe ich mich schon sehr aufgeregt. Auch habe ich dann im Laufe des Tages herausgefunden, dass mehrere meiner Kollegen für Leave gestimmt hatten und das ist dann schon wie ein Schlag ins Gesicht. Die wollen dann natürlich ihr Position erkläre und kommen dir mit diesen ganzen Argumenten, von denen du weißt, dass sie so nicht stimmen. Dann abends, wieder im Pub, dieses Mal aber nur mit englischen Freunden, die alle für Remain gestimmte hatten, war ich dann wieder traurig, aber dieses Mal wegen meiner Freunde. Ich bin Deutsch, ich habe ein Heimatland, in das ich jederzeit zurück kann und in dem ich nach wie vor noch Teil der Europäischen Union bin. Meine englischen, schottischen, walisischen und nordirischen Freunde aber sitzen hier fest und können nirgendwo anders hin.

back view: Wie denkst du, wird es für dich weitergehen. Denkst du darüber nach England wieder zu verlassen?
Ja, definitiv. Ich meine, wenn selbst David Cameron im Interview sagt, dass er nicht weiß, was mit den EU-Bürgern geschehen wird, die bereits vor dem Inkrafttreten von Artikel 50 im Land gelebt haben, dann ist das alles andere als beruhigend. Mir macht diese Unsicherheit mit am meisten zu schaffen, ich brauche Sicherheit.
Vorerst möchte ich noch in England bleiben und schauen, wie sich alles entwickelt, die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt. Allerdings hängt das natürlich auch davon ab, wie sich mein Leben hier entwickelt. Sollte ich meine Arbeit verlieren oder den Rassismus/Nationalismus am eigenen Leib zu spüren bekommen, wird sich das denke ich leider schnell ändern.

back view: Welche Konsequenzen wird der Brexit auf lange Sicht für Großbritannien und Europa haben?
Ich halte das damit jetzt mal wie die Politik: keine Ahnung. Es ist im Moment alles so vage, dass man kaum eine Aussage treffen kann.
Ich denke aber, dass die verbleibenden EU-Länder es Großbritannien nicht zu einfach machen werden. Zum einen, weil die anderen Mitgliedsstaaten zusammen gehalten werden müssen, bis Reformen erarbeitet und umgesetzt wurden und zum anderen, weil Großbritannien ja berühmt berüchtigt dafür war/ist, der EU Steine in den Weg zu legen, wo es nur ging. So ein bisschen, wie wenn man sich im bösen von einem Partner trennt, viel Zickereien, Sticheleien und Streit, wer was wann gekauft hat und wem jetzt was gehört.
Können die Menschen nicht mehr problemlos nach England reisen, wird sich das vermutlich negativ auf den Tourismus und die Universitäten auswirken. Auch Sprachreisen und Schüleraustausche würden schwieriger werden. Viele Jobs, gerade auch im NHS, werden von Immigranten erledigt, fallen die weg, kann ich mir schon vorstellen, dass das Auswirkungen haben wird. Die wurden ja nicht eingestellt, weil sie Ausländer sind, sondern weil sie die notwendigen Qualifikationen und Bereitschaft hatten, die Jobs zu machen, von daher bin eigentlich überzeugt, dass sich nicht jede Position mit einem passenden Engländer füllen lassen wird.

back view: Wie schätzt du die Überlegungen der Schotten über ein erneutes Unabhängigkeitsreferendum ein?
Ich kann das vollkommen nachvollziehen. In Schottland haben ja 75% für den Verbleib in der EU gestimmt, müssten die jetzt wegen den Leave-Wählern austreten, wäre das furchtbar unfair für sie. Im Gegensatz zu England und der EU, ist Schottland ja auch nicht Teil einer freiwilligen Verbindung von Ländern, sonder quasi gezwungenermaßen Teil Großbritanniens, insofern greifen die natürlich nach jeder Gelegenheit, sich zu lösen. Wie machbar und sinnvoll das letztendlich ist, kann man hinterfragen, aber nachvollziehbar ist es definitiv.

back view: Was wünscht du dir für die Zukunft, kurzfristig und langfristig?
Kurzfristig, dass uns endlich mal jemand sagt, was denn jetzt Sache ist. Entweder das Referendum nicht anerkennen und weiter wie bisher, eventuell noch ein weiteres, besser geplantes und organisiertes Referendum durchführen, oder zackig Artikel 50* aktivieren und den Austritt vorantreiben, es gibt nur diese zwei Optionen. Es ist absolut unverantwortlich, die Wähler und vor allem uns Immigranten so hängen zu lassen. Ich möchte außerdem, dass die britische Labour-Partei endlich aufhört, sich untereinander zu zerfleischen, sich hinter Jeremy Corbyn stellt und endlich eine wählbare Alternative zu den Konservativen schafft. Wäre das nämlich vor der letzten Wahl schon gelungen, gäbe es den momentanen Schlamassel mit ziemlicher Sicherheit nicht.
Langfristig wünsche ich mir, dass die EU sich reformiert und transparenter wird, so dass wirklich auch die Menschen auf der Straße die Vor- und Nachteile sehen können und verstehen, was in Brüssel passiert. Dann hätten solche Lügenkampagnen, wie wir sie hier leider erlebt haben keine Chance und die Leute könnten sich wirklich selbst eine Meinung bilden. Auch wünsche ich mir, dass trotz allem eine Lösung gefunden wird, die es mir und allen anderen Europäern erlaubt, unsere Freunde, Partner und Familien weiterhin problemlos besuchen zu können und unser Leben wie bisher frei gestalten zu können.

* Anmerkung der Redaktion: Gemeint ist hier der Artikel 50 der EU-Verfassung. Mit Aktivierung des Artikels hat Großbritannien zwei Jahre Zeit, die Bedingungen für den Austritt mit der EU auszuhandeln.

Vielen Dank für das Interview!

(Foto: privat)

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