EuropaPolitik

Es gibt auch schöne Erinnerungen von Utøya

Heute beginnt der Prozess gegen den norwegischen Massenmörder Anders Behring Breivik. Acht Menschen starben, als seine Bombe im Regierungsviertel in Oslo explodierte, dann tötete er 69 überwiegend Jugendliche in einem Ferienlager. Die Opfer kämpfen noch immer mit Traumata. Wie Siri, die jede Nacht aufs Neue erschossen wird.


Immer an den Kopf denken. Wenn der Kopf geschützt ist, wird schon alles gut gehen. Siri drückt ihren Hinterkopf noch stärker an den Stein, sie blutet schon ein wenig. Fest nach hinten pressen, Beine anziehen. Vor ihr im Wasser treibt der leblose Körper eines Jungen. Siri kann ihren Blick aber nicht abwenden, dafür ist nicht genug Platz. Still, ganz still, kämpft sie in dieser Ecke um ihr Leben.

NorwegenSiri ist einer von 586 Menschen, die sich am 22. Juli 2011 auf der norwegischen Insel Utøya aufhielten. An dem Tag, auf der Insel, an dem 135 überwiegend Jugendliche angeschossen wurden. 65 davon starben auf der Insel, zwei am Anleger in Utvika. Ein schwer verletzter Jugendlicher ertrank, einer wurde im Krankenhaus für tot erklärt. Verantwortlich: Anders Behring Breivik.

Siri, damals 20 Jahre alt, war zum ersten Mal auf Utøya. Sie war erst kurz bei AUF, der Jugendorganisation der Arbeiterpartei, aktiv und kannte nur wenige. Am 21. Juli spielte sie mittags Fußball, badete im Fjord und abends saß sie mit einer Runde neuer Freunde zusammen und spielte Karten. Am nächsten Tag waren sieben davon tot. Fredrik. Karar. Victoria. Ingrid. Bano. Diderik. Margrethe. Sie hatte Spaß, sie erlebte das „Utøya-Gefühl”, von dem später in all den Medien zu lesen sein wird. Sie traf die ehemalige Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland, ein großes Vorbild für die jungen Politiker im Camp.

Über die Flucht von Siri
Heute, neun Monate später, weiß Siri, dass er sie hätte treffen können, ganz ohne Probleme. Sie hatte sich eingebildet, ihren Kopf geschützt zu halten, aber von einigen Stellen aus hätte ABB, wie sie ihn in Norwegen nennen, ihr in den Kopf, in die Beine, in den Magen schießen können – wie er es bei 135 anderen auch tat. Nur einen Monat nach dem Attentat auf Utøya kehrte Siri auf die Insel zurück, mit anderen Überlebenden. Sie sah wie unmöglich der Weg war, über den sie geflüchtet ist – steil hinab, über Steine und zwischen Bäumen hindurch.

Siri überlebte, körperlich unverletzt, abgesehen von den Schrammen, die sie sich auf der Flucht vor ABB zuzog. Nun hat sie den Mut gefunden, zusammen mit ihrem Vater, dem Journalisten Erik H. Sønstelie, ein Buch zu schreiben. „Jeg lever, pappa” heißt es, „Papa, ich lebe”.  Sie schreiben jeder aus seiner Sicht über den 22. Juli, „den Tag, der uns verändert hat”. Und über die schwere Zeit danach.

Als Erik vom Bombenanschlag in Oslo hörte, bei dem acht Menschen ums Leben kamen, bat er seinen Kollegen Hilfe an. Früher schrieb er für die Boulevardzeitung „VG”. Auf dem Weg zur Redaktion kam der Anruf, der sein Leben veränderte. „Papa, ich laufe um mein Leben. Hier wird geschossen”. Erst glaubte er Siri nicht, er dachte an Hysterie oder Jungenspäße. Kurz später drehte er um, und fuhr Richtung Utøya, in der Hoffnung, seine Tochter lebend empfangen zu können.

Siri erzählt über SMS-Nachrichten, die sie an Familie und Freunde schrieb, während sie sich versteckte. Wie sie sich gegenseitig Mut machten im Versteck und sie ein Mädchen dazu bringen wollte, nicht ständig laut am Telefon zu sprechen. Sie erzählt, wie sie um das Leben von Freunden bangte, als sie schon an Land war.
Erik erzählt, wie er zusammen mit anderen Eltern in einem Raum wartete. „Als einige die glücklichen Anrufe bekamen, begann ich mich zu fragen: Wer von uns hier wird diesen Anruf nicht bekommen? Wer muss in den Todesraum?” So nannten sie den Raum, in dem am Ende die Eltern vergeblich gewartet hatten. Am 22. Juli um 19.42 Uhr klingelt das Handy von Erik. Auf dem Display: Siris Marie Seim Sønstelie. Tränen.

Psychologische Behandlungen und der Kampf gegen die Erinnerungen

In der Zeit nach dem Unglück sprach Siri mit einem Psychologen, obwohl sie erst nicht wollte. Sie war auf Gedenkfeiern und auf der Beerdigung ihrer Freundin Bano. Sie fand Halt bei den anderen AUF-Jugendlichen. Siri sagt, es sei schwierig gewesen, zu lachen, weil alle um sie herum erwarteten, dass sie weinte. Einmal kam ein Junge zu ihr und sagte: „Ich kann nicht verstehen, dass ihr den Kerl nicht festgehalten habt. Ihr wart doch so viele. Ich hätte ihn angegriffen.” Kein Verständnis. Nur AUFler wussten, wie es war. Nur unter sich fühlten sie sich sicher.

Siri hatte Angst. Bei jedem Laut im Haus rief sie nach ihren Eltern. Sie begann zu weinen. Jede Nacht wurde sie erschossen. Bei einer Lauftour sprang sie zur Seite und suchte Deckung, als ein schwarz gekleideter Fahrradfahrer sich von hinten nähert. „Papa, werde ich jetzt so? Ist das jetzt mein Leben?”, fragte sie. Siri begab sich in psychologische Hilfe.

Sie beschloss, dass ABB ihr Leben nicht zerstören dürfe. Am 13. August bestieg Siri zusammen mit ihrer Familie den Kilimandscharo. Ein lange geplanter, sehnlichst gewünschter Urlaub, den sie nach dem 22. Juli zunächst absagen wollte. Sie überwand sich, mit Hilfe ihres Psychologen. Unterwegs weinte sie manchmal und brauchte Pausen. Aber sie ging über ihre Grenze. Einmal mehr. Traumabewältigung.

Eine Woche später war Siri zurück auf Utøya. Zunächst hatte sie gezögert, aber zusammen mit ihren AUF-Freunden wollte sie die Insel zurück erobern. An Stellen, an denen Jugendliche erschossen oder schwer verletzt wurden, standen Wachmänner, die zu den Todesumständen Auskunft gaben. Ministerpräsident Jens Stoltenberg hielt eine Rede, während die Jugendlichen und ihre Eltern still am Hang, im Grünen, saßen. Sie fingen an zu singen, zu klatschen. Da war es wieder, das Utøya-Gefühl. ABB hat sie nicht zerstört. Sie sind stärker.

text norwegenÜber das Niederschreiben der Erlebnisse
Kurze Zeit später wurde Siri von einem Buchverlag kontaktiert. „Ich war ziemlich unsicher. Ich dachte, dass ich keine Geschichte zu erzählen hatte. Ich habe nicht gesehen, wie jemand umgebracht wurde, und ich habe den Attentäter nicht gesehen”, sagt sie heute. Aber Siri fühlte auch, dass sie stark genug war, diese Geschichte zu erzählen. Ihre Geschichte vom 22. Juli. „Es hat viel Kraft gekostet und ich war oft müde. Aber es war wichtig, um mir ein Stück Alltag zurückzuholen.” Inzwischen ist das Buch auf Isländisch, schwedisch und dänisch übersetzt, mit deutschen und englischen Verlagen wird verhandelt.

„Das Buch hat den Opfern eine Stimme gegeben”, sagt Erik, „in einer Zeit, in der es viel um den Attentäter ging.” Im zweiten Teil sprach Erik mit Opfern, Helfern, Polizisten, Angehördigen und den Eltern von Fredrik, die im Todesraum vergeblich auf den Anruf warteten. Viele würden ihn fragen, wie es ihm ginge, sagt Erik. In Norwegen kennt man ihn, er hat die Öffentlichkeit gewählt. Schon in der Nacht vom 22. auf den 23. Juli schrieb Erik den berühmt gewordenen Artikel „Gedanken eines Vaters” für „VG”. Zusammen mit Siri veröffentliche er mehrere Texte und war zu Gast in Talkshows.

Nicht immer war er ganz davon überzeugt. Erik fragte sich, ob er genug Vater war – oder vielleicht doch zu viel Journalist. Heute weiß er, dass er nicht anders handeln konnte – und so seinen Beitrag geleistet hat, den 22. Juli aufzuarbeiten. „Ich weiß nicht, ob ich es richtig gemacht habe. Aber ich hoffe es. Ich glaube, die Journalistenrolle ist durchgekommen, weil es das einzige Werkzeug war, das ich hatte, um mit einer Katastrophe umzugehen.”

Das Buch war für Siri ein Neuanfang. Als sie ihren Teil beendet hatte, zog sie nach England, um wie geplant „Politik und Menschenrechte” in Essex zu studieren. Hier wissen nicht viele, was Siri durchgemacht hat und noch immer durchmacht. Die Professoren hat sie informiert. Einige Kommilitonen wissen Bescheid: In der ersten Zeit trug sie ihr Utøya-Bändchen ums Handgelenk. Das Teilnehmerband. Utøya war zwei Stunden die größte Bedrohung ihres Lebens. „Aber es gibt viele schöne Erinnerungen, auf die es sich aufzupassen lohnt.”

Das Leben nach dem 22. Juli 2011

Für Erik ist es manchmal schwer, seine Siri so weit weg zu wissen. Nach dieser Zeit. „Wir sprechen nicht mehr täglich über Utøya, aber ich denke fast täglich daran.” Er sorgt sich um Siri, so weit weg von ihm. Alleine in England. Und er sorgt sich um Siris kleine Schwester, die ebenfalls schwer traumatisiert ist. Er sei ein „Hühnchen-Vater” geworden, sagt er.

„Ich bin froh, dass Siri die Angst in sich herausgefordert hat. Ich war stolz, als sie ihr Studium in England begann”, sagt Erik. „Er sollte nicht dramatisch in ihren Lebensplan eingreifen.” Fast täglich halten Vater und Tochter Kontakt über Skype.

In diesen Tagen braucht Siri ihren Vater wieder mehr. Zur Gerichtsverhandlung wird sie nach Oslo reisen. Sie werden in der Nähe des Gerichtssaals sitzen, in dem Breivik sitzt. Beide zusammen, mit anderen Angehörigen. Einen weiteren Schlussstrich ziehen. „Als Vater werde ich sie unterstützen, so gut ich kann.” Dann wird er aber wieder als Journalist unterwegs sein. Sogar ausländische Medien haben bei ihm angefragt.

Siri wird dann auch wieder ihre AUF-Freunde treffen. Immer, wenn sie in Norwegen zu Besuch ist, nimmt sie an Veranstaltungen teil. Die anderen wissen, wie es ist, noch immer Angst zu haben, durch das Fenster ihrer Wohnung erschossen zu werden. Und in jedem Raum nach einem Fluchtweg zu suchen. Das Feriencamp ist in diesem Jahr nach Nordnorwegen verlegt, weil auf Utøya umgebaut werden muss. Trotzdem: Im Sommer, am 22. Juli 2012, fahren sie alle zusammen nach Utøya, zurück auf die Insel, die eine Hölle war.

(Text: Miriam Keilbach / Fotos: Berit Roald/Scanpix und Erik)

Miriam K.

Miriam war 2007 im Gründungsteam von backview.eu. Sie volontierte beim Weser-Kurier in Bremen und arbeitet seit 2012 als Redakteurin bei der Frankfurter Rundschau. Ihre Themen: Menschen, Gesellschaft, Soziales, Skandinavien und Sport.

Schreibe einen Kommentar