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Die Gründe für den Zorn

In dem „gelobten Land am Nil”, der früheren Hochkultur, geht wie auch in vielen anderen afrikanischen Staaten allmählich die Sonne unter, auch wenn Berichte über ständig steigende Touristenzahlen etwas Anderes suggerieren. Eine Kurzanalyse gesellschaftlicher und politischer Probleme.[divide]

Ägypten hat heute etwa 85 Millionen Einwohner, davon lebt allein ein Viertel im Großraum Kairo, viele davon in slum-ähnlichen Verhältnissen (geschätzt 15-25 Prozent). Die Bevölkerungszunahme ist erschreckend hoch, von 1978 bis 2009 ist eine Verdopplung zu verzeichnen. 32 Prozent aller Ägypter sind jünger als 14 Jahre, das Durchschnittsalter liegt bei 24 Jahren, es sind folglich sehr viele Ägypter im fortpflanzungsfähigen Alter oder erreichen es in den nächsten Jahren, womit eine weitere exzessive Bevölkerungszunahme unausweichlich ist.

Es gibt zwar eine allgemeine Schulpflicht, die jedoch nicht kontrolliert wird, Abgänge von der Schule mit Minimalbildung nach vier bis sechs Jahren sind im Unterschicht- und Armutsbereich die Regel, viele Mädchen besuchen ohnehin nie eine Schule.
Die offizielle Zahl von 9,4 Prozent Arbeitslosen (2009) sagt in der Realität wenig aus. Viele aus der Armutsschicht sind Tagelöhner, die gewerbliche Produktivität je Arbeiter und Tag ist vergleichsweise gering. Ein Berufsbildungswesen existiert nicht.

Die demographische Entwicklung wird noch verschärft, da sich Bildungsstandard und Einkommen umgekehrt proportional zur Geburtenzahl verhalten: Während sich bei den „upper 10 Prozent” die Zweikinderehe durchsetzt, werden in der breiten Unter- und Armutsschicht sehr oft zweistellige Kinderzahlen je Ehe gezeugt.
Sämtliche Projekte (unter anderem der Vereinten Nationen) zur Geburtenkontrolle gelten als gescheitert. Nicht zuletzt liegt dies an einem tradierten Männlichkeitsbewusstsein vor allem in wenig gebildeten Kreisen, dass geringe Kinderzahl mit männlichem Unvermögen gleichsetzt und gezeugte Töchter fast als Versagen interpretiert.

Die Landwirtschaft im Niltal kann damit schon lange nicht mehr Schritt halten. Ägypten ist Nettoimporteur selbst für Grundnahrungsmittel. Eine zusätzliche Negativentwicklung ergibt sich aus dem Bau des Assuan-Staudammes, der 1971 in Betrieb genommen wurde. Der vorher regelmäßig die Felder düngende Nilschlamm bleibt seitdem aus, womit Investition in Düngemittel zunehmend erforderlich sind. Ferner versalzen die Böden, dies beeinträchtigt deren Fruchtbarkeit.

Die ägyptische Einkommenssituation, differenziert nach Ausbildung, Verantwortung und Verdienst, bestraft so zusätzlich die Bildungswilligen. Wenn höhere Verwaltungsbeamte 100 Euro, Lehrer maximal 120 Euro, angestellte Ärzte 150 Euro Monatsgehalt bekommen, so mancher sogenannte Bakshishjäger von Touristen diese Summe aber binnen zwei Tagen kassiert, ist Bildung nicht motivierend – Bestechlichkeit dahingegen schon fast ein menschlicher Zug, um das eigene Überleben zu sichern.
Daher ist Leben in den Tourismuszonen der Traum vieler armer Männer. Im Hotelbereich sind allerdings durch die weit verbreitete Ausweitung des bargeldlosen all inclusive-Tourismus dem Hinzuverdienst durch Trinkgelder enge Grenzen gesetzt.

(Text: Jochen Warner)

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