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Die andere deutsche Sprache

Die meisten Menschen setzen Sprache mit der Artikulation von Lauten gleich. Selbst Linguisten gingen bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts von dieser Annahme aus bis Studien bewiesen, dass es zwei Arten gibt, Sprache auszudrücken: die lautlich-auditive und die gestisch-visuelle. Zur letzteren zählt auch die Deutsche Gebärdensprache.


Wenn ich Freunden und Bekannten begeistert von dem Gebärdensprachkurs erzähle, den ich im vergangenen Jahr besucht habe, bekomme ich meistens die Frage gestellt: Kannst du dich jetzt mit Gehörlosen weltweit unterhalten?
Nein, leider nicht, denn es gibt keine universelle Gebärdensprache. Jedes Land hat eine eigene nationale Gebärdensprache. Außerdem gibt es auch bei der Gebärdensprache zahllose Dialekte und Soziolekte. Ich lerne also die Deutsche Gebärdensprache, kurz DGS genannt.

In Deutschland gilt die Gebärdensprache erst seit 2002 als offiziell anerkannte Sprache. Mindestens 100.000 Sprecher der Deutschen Gebärdensprache gibt es momentan in der Bundesrepublik. Vor allem Menschen mit Hörschädigungen, Familienangehörige und Dolmetscher nutzen diese Sprache.

DGS in Gebärdensprache

Eine vierdimensionale Sprache
Zunehmend entdecken immer mehr hörende Menschen ohne Kontakt zur Gehörlosengemeinschaft ihre Faszination für die Gebärdensprache. Grund dafür ist auch, dass sie ganz anders funktioniert als gesprochene Sprachen. Denn die Gebärdensprache ist vierdimensional: Zu der dreidimensionalen Räumlichkeit kommt die Zeit als vierte Dimension hinzu.

Im Gegensatz zu den sogenannten Lautsprachen, die zeitlich linear verlaufen, bedienen sich Gebärdensprachen der Simultaneität, das heißt, dass mehrere Informationen gleichzeitig übermittelt werden. Auf diese Weise sind Gebärdensprachen genauso schnell wie Lautsprachen.

Beim Gebärden werden Hände, Arme, Oberkörper, Kopf und Gesicht verwendet. Die Deutsche Gebärdensprache [Das Bild links zeigt das Kürzel DGS in Gebärdensprache] ist dennoch nicht emotionaler als andere Sprachen oder gar pantomimisch. Mimik und Körperhaltung werden als grammatische Markierungen und Teil des eigenständigen Sprachsystems der Gebärdensprache gebraucht.

Unterschiede zur Lautsprache

Studien haben gezeigt, dass sowohl Gebärdensprachen als auch Lautsprachen die in der linken Hirnhälfte typischen Areale der Sprachverarbeitung aktivieren. Dies ist umso erstaunlicher und aussagekräftiger, da die rechte Hirnhemisphäre bevorzugt für die visuell-räumliche Informationsverarbeitung zuständig ist. Die Verarbeitung der deutschen Gebärdensprache im Gehirn ist der Deutschen Sprache also sehr ähnlich. Auch der Spracherwerb verläuft bei beiden Sprachen analog.

Die Deutsche Gebärdensprache hat mit der Deutschen Sprache aus linguistischer Sicht recht wenig gemeinsam. Diesbezüglich gleicht die DGS eher asiatischen und afrikanischen Sprachen. Daher können gehörlose Menschen, die zusätzlich die Lautsprache beherrschen, also Deutsch sprechen oder lesen, als zweisprachig gelten.

Die Sprach- und Neurowissenschaft hat also eindrücklich widerlegt, was viele leider immer noch denken: Dass die Deutsche Gebärdensprache keine eigenständige Sprache sei. Sie ist ganz im Gegenteil eine linguistisch vollwertige Sprache, die nicht ikonisch oder kontextabhängig funktioniert und zudem viel komplexer strukturiert ist als meist angenommen.

Auch die DGS kann wie Lautsprachen nach linguistischen, psycholinguistischen und neurowissenschaftlichen Kriterien untersucht werden. Mit ihr kann jeglicher Inhalt ausgedrückt werden: Ein mathematischer Gedanke genauso wie eine heiße politische Debatte oder ein zartes Liebesgeständnis.

(Text und Foto: Eugenia Mantay)

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