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Der Streit um die Rentiere

Obwohl Norwegen nur etwa viereinhalb Millionen Einwohner hat, lebt dort nicht nur eine einzige Bevölkerungsgruppe. Bis zu 100.000 Menschen sind Samen, ein indigenes Volk, das nicht nur im Norden von Norwegen, sondern auch in Schweden (25.000), Finnland (6.000) und Russland (2.000) lebt.

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Eigentlich haben die Samen, welche größtenteils aus norwegischen Staatsangehörigen bestehen und als ethische Minorität bezeichnet werden, und Norweger mehr gemeinsam, als sie einst dachten. Beide Völker verbindet eine tiefe Liebe zur Natur. Beide verbringen ihre Wochenenden am liebsten auf Hütten und essen gerne Fisch. In der Realität hingegen konnte der Unterschied eine sehr lange Zeit kaum deutlicher sein.

Die samische Minderheit wurde unterdrückt, die Sprache verboten und die Kultur nahezu ausgerottet. Wer einen samischen Nachnamen trug, durfte kein Land besitzen und Samen waren von der (Schul-)Bildung ausgeschlossen. Dabei sind sie eigentlich die Ureinwohner aller vier Länder, in denen sie heute noch leben. Denn nachweislich bewohnten die Samen diese Gebiete schon lange bevor nationalstaatliche Grenzen gezogen wurden und damit bevor die skandinavischen Länder und Russland gegründet wurden.

Die Samen leben im Gegensatz zu den sehr westlich und an der Moderne orientierten Norwegern noch traditionell. Zwar sind die Zeiten vorbei, in denen die Samen in selbstgebauten, provisorischen Hütten hausten und nur von Tierhaltung, Jagd, Fischerei, Landwirtschaft und Handwerk lebten, dennoch sind viele samische Familien noch nicht zu 100 Prozent im gesellschaftlichen Alltag integriert.

“Ansonsten esse ich auch gerne mal Pizza”
Biret Inger Hætta ist eine jener integrierten Samen. Sie ist Pädagogin für Kinderschutz und wohnt in einem Mietshaus: „Meine Mutter ist Krankenschwester und eine meiner Schwestern studiert, die andere wird Polizistin.” Nur der Bruder arbeitet in einem ursprünglich samischen Beruf, in der Rentierzucht. „Ich glaube wir Samen fühlen uns der Natur mehr verbunden als andere. Wir hören mehr auf das Wetter, den Wind und die Mondstellung. Wir lernen schon in der Kindheit den Respekt vor der Natur und der Erde und lernen, dass wir fragen müssen, ob wir benutzen dürfen, was uns die Erde schenkt. Außerdem essen wir mehr eigenes Fleisch. Selbstgefangenen Fisch, Rentierfleisch, Elchfleisch, Vögel und Eier, aber auch Beeren, die wir im Wald anbauen und pflücken”, so die Samin, die eigentlich sehr akklimatisiert lebt. „Ansonsten esse ich auch gerne mal Pizza, Hamburger und all die ungesunden Sachen”, lacht sie. „Und die Autobahn E6 macht auch neben meiner Wohnung Krach.”

Auch wenn die Autobahn auf beiden Seiten gleich viele Nerven kostet, gibt es rund 45 Jahre nach der Abkehr der Norwegisierung des Landes noch viele Missverständnisse, die vor allem auf den kulturellen Unterschieden beruhen. Das Problem liegt in der Rücksichtslosigkeit auf beiden Seiten: „Wie soll mein Bruder genug Land für seine Rentiere haben, wenn die Norweger etliche Hütten auf das Gebiet bauen, das die Rentiere bewohnen? Die Tiere waren ja zuerst da”, argumentiert Hætta, die sich aktiv für die Rechte der samischen Minderheit und für das friedliche Zusammenleben der russischen, norwegischen, schwedischen und finnischen Samen in ihren jeweiligen Ländern einsetzt.

Die Integrationsarbeit der Politik verbessert sich
Dennoch hat sich das Verhältnis zwischen Samen und Norwegern in den vergangenen Jahren deutlich verbessert. Erst in den 30er Jahren setzte das Verständnis ein, dass die samische Sprache, die den gleichen Ursprung wie Finnisch hat, und die samische Kultur geschützt werden müssen. 1959 gab es einen ersten Untersuchungsbericht zur Minderheitenpolitik, der die Abwendung der Assimilierungspolitik forderte. Drei Jahre später bot dieser Bericht die Grundlage für die erste parlamentarische Debatte der Prinzipien der norwegischen Politik im Umgang mit den Samen. So wurden unter anderem der samische Entwicklungsfonds und ein Abkommen über die Rentierhaltung beschlossen.

goahtiSeit 1989 haben die Samen in Norwegen eine eigene Legislative. Die zuvor gegründeten Ausschüsse für Recht und Kultur erarbeiteten die Gesetzgebung zum Sámediggi, dem Samischen Parlament. Zusammen mit der Norwegischen Nationalversammlungswahl fanden die ersten Wahlen noch im gleichen Jahr statt, die erste Sitzung eröffnete der norwegische König Olav am 7. Oktober 1989. Die Aufgaben sind vor allem die Vermittlung und Durchsetzung politischer Inhalte in den Gebieten, die hauptsächlich von Samen bewohnt werden. Nach und nach soll dem Sámediggi mehr Verantwortung übertragen werdem, um den Samen das Leben zu erleichtern.

Und während früher versucht wurde, die samische Sprache zu vernichten, setzten im vergangenen Jahrzehnt einige Rettungsmaßnahmen ein. Im Jahre 2000 richtete das Storting, das norwegische Parlament, einen Fond in Höhe von 75 Millionen Norwegischer Kronen (etwa 8,7 Millionen Euro) zur Stärkung der samischen Sprache und Kultur ein. So gibt es im öffentlich-rechtlichen Fernsehen nun samische Nachrichten und teilweise Untertitel in samischer Sprache.

Vor fünf Jahren wagte das Storting erneut einen Vorwärtsschritt in der Samenpolitik. Sie beschlossen freiwillige Entschädigungszahlungen für die Samen, die im zweiten Weltkrieg benachteiligt und von der Schulbildung ausgeschlossen wurden. Die Analphabetenrate ist unter diesem Volk hoch, doch durch die Förderung der Minderheitsbevölkerung nimmt sich die Regierung dieser Problematik an, sodass in Zukunft samische Bürger die gleichen Berufe wie norwegische ausüben können. 542 Millionen Norwegische Kronen (etwa 61 Millionen Euro) stellte die Regierung 2004 für besondere Maßnahmen zur Verfügung, etwa die Hälfte davon verwaltet das Sámediggi.

Eine Fahne setzt Zeichen
Das Symbol der Samen, die Flagge mit den rot, grün, gelb und blauen Streifen und dem blau-roten Kreis in der Mitte wurde erst 1986 vom Samischen Rat, der eine internationale NGO mit Mitgliedsverbänden aus allen vier samischen Ländern ist, eingeführt. Die Fahne wurde am 06. Februar 2003 – dem Nationalfeiertag in Finnland, Russland, Schweden und Norwegen – als Symbol für eine vereinte samische Nation trotz Staatsgrenzen, zum ersten Mal am Gebäude der Regierungsverwaltung und am Storting gehisst. Dies sollte ein Zeichen für die Bedeutung der samischen Kultur in Norwegen sein.

Trotz der Verbesserungen in den vergangenen Jahren sieht Biret Inger Hætta noch Handlungsbedarf. „Der samische Rat arbeitet viel und macht gute Arbeit. Ich kann inzwischen auch Briefe auf samisch an öffentliche Behören schicken und bekomme auf samisch Antworten, aber es gibt noch genug zu tun. Ich hoffe zum Beispiel, dass das Gesetz zur Selbstbestimmung der Urvölkerrechte bald ratifiziert wird”, sagt die Samin, die für den Norwegischen Samischen Reichsverbund, NSR, als Leiterin der Lokalgruppe Alta arbeitet.
Sie selbst genießt und lebt ihre samische Kultur trotz einem assimilierten „normalen” norwegischen Leben. „Meine Familie hat noch eine samische Hütte, Goahti, auf den Bergen, aber inzwischen nutzen alle Familien diese Hütten nur noch in gewissen Zeiträumen, im Herbst zum Beispiel, während der Jagdsaison. Außerdem haben wir noch eine mobile Hütte, Lavvu, die wir wie die Europäer ihr Zelt zum Campen benutzen.”

Auf ein anderes kulturelles Erbe würde sie ebenfalls nicht verzichten wollen. „Meine Mutter hat zwar schon in den 90er Jahren angefangen, westliche Kleidung zu tragen und meine Großmutter trägt meist nur noch die samische Strickjacke, aber zu bestimmten Anlässen ziehen wir unsere samischen Trachten an.” Die Kleidung selbst hat lediglich die Bedeutung der ethischen Zugehörigkeit zum samischen Volk. „Ich ziehe meine Strickjacke zum Gottesdienst oder an Feiertagen wie Weihnachten an, aber wir Samen haben sowieso eine eigene Festkultur”, lacht Hætta. „Ich bin alleine in diesem Jahr auf drei Konfirmationen und vier Weihnachten eingeladen – und es ist erst März.”

War die Übereinkunft von samischen und norwegischen Interessen früher eine große Herausforderung, haben beide Seiten inzwischen gelernt, miteinander umzugehen und die jeweils andere Kultur zu respektieren. Werden die Entwicklungen der vergangenen Jahre fortgesetzt, können weitere Vorurteile abgebaut werden, sodass ein friedliches und tolerantes Miteinander möglich ist. Denn Samen sind immerhin zum größten Teil auch nur Norweger.

(Text und Fotos: Miriam Keilbach)

Miriam K.

Miriam war 2007 im Gründungsteam von backview.eu. Sie volontierte beim Weser-Kurier in Bremen und arbeitet seit 2012 als Redakteurin bei der Frankfurter Rundschau. Ihre Themen: Menschen, Gesellschaft, Soziales, Skandinavien und Sport.

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