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Der schwierigste Wahlkampf

Er lächelt, er bekommt Rosen, schüttelt Hände und umarmt Landsleute. Norwegens Premierminister  Jens Stoltenberg hat nach den Anschlägen vom 22. Juli, bei denen Attentäter Anders Behring Breivik 77 Menschen tötete, allerhand zu tun. Die neue, wenn auch tragische Rolle steht ihm. Er ist beliebt wie nie zuvor, seine Partei erlebt vor den Kommunal- und Regionalwahlen am 12. September eine Sympathiewelle.


norwegen wahlkampfBislang war Jens Stoltenberg umstritten. 2000 wurde er Premierminister, weil der bis dato amtierende Premierminister Kjell Magne Bondevik eine Vertrauensabstimmung verlor. Bei den Wahlen 2001 allerdings unterlag die Arbeiterpartei, der Stoltenberg angehört, der Christlichen Volkspartei. Bondevik regierte weitere vier Jahre, ehe Stoltenberg ihn ablöste. 2009 war es wieder knapp für den charismatischen 52-Jährigen, als er sich nur mühsam gegen die rechtspopulistische Fortschrittspartei von Siv Jensen durchsetzen konnte.
Stoltenberg, für viele war er zu kalt, zu jung, zu schwach. Norwegen wünschte sich einen Premierminister mit Herz, der mehr Wärme und mehr Stärke ausstrahlt. Als Stoltenberg 2000 Regierungschef wurde, war er der jüngste in seinem Amt, den Norwegen je hatte. Kann dieser Mann eines der letzten unverschuldeten Länder führen?

Seit dem 22. Juli hat kaum einer mehr einen Zweifel daran. Der Jens Stoltenberg nach dem 22. Juli ist einer mit Herz. Einer, der Stärke zeigt, und gleichzeitig einräumt, dass er weint. Der sein Land immer wieder ermutigt, in allen Trauerreden und Ansprachen die richtigen Worte findet und jeden tröstet, obwohl er nach den Anschlägen, bei denen er viele Bekannte verlor, selbst psychologische Hilfe in Anspruch nimmt. Er vermittelt Hoffnung und Souveränität und nimmt Angst und Hysterie.

norwegen text2Zusammenhalt statt Hass
Bislang kam er nie an der Mutter der Nation, der ehemaligen Premierministerin Gro Harlem Brundtland vorbei. Plötzlich wird in Superlativen von Stoltenberg gesprochen: ein echter Staatsmann, ein Politiker, der in die Geschichte eingehen würde. Ein Sympathieträger, der alles kann. Ein Betroffener, der trotzdem souverän mit der Situation umgeht – und sein Land dazu führt, mit Liebe, Offenheit  und Zusammenhalt auf die Anschläge zu antworten, nicht mit Hass oder Vergeltung.
Bis auf 40,5 Prozent kletterte die Arbeiterpartei nach den Terroranschlägen, deren Hauptziel die Arbeiterpartei war. Acht Menschen starben bei einer Bombenexplosion im Osloer Regierungsviertel, 69, fast ausschließlich Jugendliche, beim Sommercamp der Arbeiterjugend AUF. Bei etwas über 31 Prozent lag die Partei noch in den Juni-Messungen. Zwar sind erst im Jahr 2013 wieder Stortingetwahlen (Parlamentswahlen), doch am 12. September werden die kommunalen und regionalen Parlamente neu besetzt.

Heute hat sich einiges wieder eingependelt. Zwar liegt die Arbeiterpartei mit je nach Umfrage zwischen 33 und 36 Prozent nach wie vor über den Juni-Werten. Anders sieht es aber bei der rechtspopulistischen Fortschrittspartei aus. In guten Zeiten prophezeiten Umfragen 30 Prozent. Damit hätte die Partei in etlichen Kommunen und Fylken (regionale Regierungsbezirke) die Regierung übernommen.

Aber erst kam ein Porno-Skandal eines ranghohen Parteimitgliedes, dann Breiviks Nähe zur Partei. Der 32-jährige Attentäter war jahrelang Mitglied der Partei und hatte Führungsaufgaben in der Jugendorganisation der Fortschrittspartei. Auf 14,6 Prozent kam die Partei in den letzten Umfragen. Damit wurde sie sogar von der konservativen Partei, die sich etwas „Höyre” – Die Rechte, nennt, überholt. Sie liegt konstant bei rund 25 Prozent.


Ausländerpolitik wird Tabuthema
Das Problem der Fortschrittspartei: Ihr Wahlkampfthema ist weggebrochen. Denn über Ausländerpolitik will man in Norwegen noch nicht reden. Zu stark und präsent sind die Eindrücke des 22. Juli. Breiviks Ziel war die Arbeiterpartei, die durch ihre lose Ausländerpolitik eine Unterwanderung Norwegens durch den Islam zulasse. Seither ist es ruhig um die Kritik an Norwegens Einwandererpolitik geworden, zu groß ist die Angst, in eine rechte Ecke abgeschoben zu werden.

Parteivorsitzende Siv Jensen versucht es nun mit ihren anderen beiden Kompetenzthema: Sozial- und Steuerpolitik. Jetzt wird über eine staatliche Altershilfe, einen besseren Service in Krankenhäusern und die norwegische Schulpolitik diskutiert. Oder über die Abschaffung der Produktionsausrüstungssteuer – im TV-Duell beispielsweise, das es vor etwa einer Woche gab. Jensen wurde von den Zuschauern zur Siegerin gekürt – weit abgeschlagen landete Stoltenberg nur auf Rang Zwei, mit über  15 Prozentpunkten Rückstand.

Außerdem kritisieren erste Politiker der Fortschrittspartei das Justizsystem. Per Sandberg schrieb in einem Beitrag für die Zeitung „Dagbladet”, man müsse verstärkt auf Sicherheit und Wachsamkeit setzen. Bislang war Norwegen ein Land, das mehr Wert auf Freiheit und Individualität legte. Auch nach den Anschlägen war vielerorts zu hören, man sei stolz darauf, in einem Land zu leben, in dem die Polizei in der Regel unbewaffnet ist.
Trotzdem: Das neue Übervater-Image nutzt dem Premierminister. Er erfindet gar eine neue Art von Wahlkampf in Norwegen. Im Internet startete er die Aktion „Hol dir den Premier zu dir nach Hause”. Bürger können ihn per Mausklick navigieren, mit dem Fahrrad stattet er Hausbesuche ab. Ein Regierungschef zum Anfassen.

„Es gibt keine perfekte Partei”
Nebenbei sagt er Dinge, die vor wenigen Wochen noch tabu gewesen wäre. Beispielsweise, dass es keine perfekte Partei gebe. „Auch die Arbeiterpartei ist nicht perfekt. Wir haben viele Fehler gemacht, und werden auch in der Zukunft viele Fehler machen. Wir machen mehr Fehler, als ihr ahnt, denn wir sind sehr gut darin, diese Fehler zu verstecken”, sagte er beim Wahlkampfauftakt. Zeigen von Emotionen und Schwäche, es bringt Wählerstimmen im neuen Norwegen – auch wenn die Sympathiewelle langsam abflacht.
„Diese Tage haben einen Effekt auf den Wahlkampf. Anders ist es unvorstellbar”, sagte Wahlforscher Bernt Aardal kurz nach den Anschlägen. Das zeigen vor allem die Beliebtheitswerte für einzelne Personen. 80 Prozent der Norweger gaben in einer Umfrage für die Zeitung „VG” an, Stoltenberg ginge mit der Katastrophe sehr gut um, weitere 14 Prozent antworteten mit gut.

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„Er hat den Eindruck vermittelt, dass er die Situation unter Kontrolle hat, er hat Unsicherheit abgebaut und eine Empathie vermittelt, an die sich das Volk erinnern wird”, sagte der Wahlforscher Anders Todal Jenssen im Hinblick auf den 12. September. „Ich glaube, niemand hätte diese Krise besser meistern können als er”, lobte der Historiker Hans Olav Lahlum.
Die Parteien, auch Stoltenbergs Arbeiterpartei, gehen inzwischen so weit, auch dazu aufzurufen, andere Parteien zu wählen. Die Antwort auf Breiviks Attentate und absurde Forderungen könne nur mehr Demokratie sein. Geht wählen, ist das Motto. Und die Menschen reagieren. 500 Anmeldungen sind bei den Parteien und Nachwuchsorganisationen – außer der Arbeiterpartei und der AUF – in den ersten Tagen nach den Anschlägen eingegangen.

Experten gehen davon aus, dass vor allem die Erstwähler verstärkt wählen gehen werden, für ihr Norwegen, ihre Demokratie, ihre Gemeinschaft. „Die Wahlbeteiligung lag bei den Erstwählern zuletzt bei nur 30 Prozent, in diesem Jahr wird sie deutlich höher sein. Die Reaktionen der Jugendlichen auf das, was passierte, führen zu einer Mobilisierung.” Keiner möchte, dass Breiviks Plan aufgeht. 96.000 haben sich bei Facebook zusammengeschlossen: „Eine Rekord-Wahlbeteiligung ist meine Antwort.”

(Text: Miriam Keilbach / Titelfoto: Eirik Helland Urke / Fotos: Melanie Götte)

Miriam K.

Miriam war 2007 im Gründungsteam von backview.eu. Sie volontierte beim Weser-Kurier in Bremen und arbeitet seit 2012 als Redakteurin bei der Frankfurter Rundschau. Ihre Themen: Menschen, Gesellschaft, Soziales, Skandinavien und Sport.

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